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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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es nämlich kein Einzeltäter war. Sie alle sind es gewesen.«
    »Alle? Doch nicht alle purbas.«
    Shan schüttelte den Kopf und seufzte. »Am schwierigsten war es, eine Verbindung zwischen den Opfern herzustellen. Sie alle hatten in leitender Funktion an einer großen Regierungsoperation mitgewirkt, also standen sie symbolisch für das Leid, das den Tibetern zugefügt wurde. Die Aktivisten kamen natürlich sofort als Verdächtige in Betracht. Aber niemand hat ein weitaus direkteres Motiv in Erwägung gezogen. Die Opfer waren allesamt hohe Beamten, und sie waren alle alt.«
    »Alt?«
    »Sie waren die Leiter ihrer jeweiligen Dienststellen. Ihrer überaus einflußreichen Dienststellen. Gemeinsam hatten sie die Kontrolle über den Großteil des Bezirks. Und unter ihnen, als nächster in der Reihe, wartete jemand, der sehr viel jünger war. Ein Mitglied des Bei Da-Verbands.« Er stellte sich vor die Konsole. Kincaid überprüfte das Verzeichnis der Kartenanforderungen.
    Rebecca Fowlers Mund öffnete sich, aber sie schien zunächst kein Wort herauszubekommen. »Soll das heißen, der Verband war so eine Art Mörderklub?« fragte sie schließlich.
    Shan ging entlang des langen Tisches auf und ab. »Li war der Nachfolger von Jao. Wen übernahm nach Lins Tod das Büro für Religiöse Angelegenheiten. Hu übernahm das Ministerium für Geologie. Der Leiter des Kollektivs der Langen Mauer mußte nicht ersetzt werden, weil das Kollektiv aufgrund seiner kriminellen Machenschaften aufgelöst wurde. Vielleicht wußten die anderen sogar gar nichts davon, als sie mit ihren Morden begannen. Aber als sie herausbekamen, daß man als Drogenproduzent ziemlich viel Geld verdient, wie konnten sie da noch widerstehen?« Was hatte Li bei ihrem ersten Zusammentreffen gesagt? Tibet war ein Land voller günstiger Gelegenheiten. Shan nahm einen der amerikanischen Hochglanzkataloge und schob ihn zu Fowler herüber. »Die meisten der Sachen hier drin kosten mehr als eines der monatlichen Beamtengehälter dieser Männer.«
    Kincaid saß noch immer da und starrte auf den Computermonitor. Er hatte aufgehört, auf seiner Mundharmonika zu spielen. Seine Hände umklammerten den Tischrand. »Du hast sie ihm gezeigt«, flüsterte er. »Du hast Shan die Karten gezeigt. In unserem Archiv waren keine, also hast du sogar extra welche für ihn angefordert. Du hast noch nie selbst Karten bestellt.«
    Fowler drehte sich zu ihm, ohne zu begreifen, was er eigentlich meinte. »Ich mußte, Tyler, es ging doch um den Mord an Jao. Diese Wasserrechte, die wir nie verstanden haben.«
    Doch Kincaid blickte zu Shan, der nahe genug hinter ihm stand, um den Text auf dem Bildschirm lesen zu können. Es ging nicht um die Karten von Jaos Mohnfeldern. Kincaid sprach von den Bildern der Südklaue. Den Karten, auf denen der amerikanische Ingenieur Yerpa entdeckt hatte.
    »Bei Durchsicht der Fotos, die Sie in der Höhle angefertigt hatten, konnten wir den Schädel ausmachen, der verlegt worden war«, sagte Shan. »Nicht zerstört, sondern respektvoll an eine andere Stelle verlegt. Ich dachte, dieser Umstand würde auf die Anwesenheit eines Mönches schließen lassen. Doch ein Mönch wäre in der Lage gewesen, das tibetische Datum bei jedem der Schädel zu erkennen. Er hätte vermutlich nicht in die Ordnung des Schreins eingegriffen und die korrekte Reihenfolge durcheinandergebracht. Erst sehr viel später ist mir klargeworden, daß auch jemand, der kein Tibetisch zu lesen vermag, durchaus Respekt vor dem Schädel haben konnte.« Kincaid schien ihn nicht gehört zu haben.
    »Sie meinen, es war ein Chinese?« warf Fowler bedrückt ein.
    Shan ließ sich müde auf einen Stuhl gegenüber von Fowler sinken und beschloß, es mit einem anderen Ansatz zu versuchen.
    »Das Lotusbuch kann leicht mißverstanden werden.«
    »Das Lotusbuch?« fragte Fowler.
    Shan hielt den Blick auf seine verschränkten Hände gerichtet, während er sprach. Eine unermeßliche Traurigkeit, eine fast lähmende Schwermut hatte sich über ihn gelegt. »Es geht nicht um Rache«, fuhr er fort. Kincaid drehte sich langsam zu ihm um. »Es geht nicht um Vergeltung. Die purbas machen sich zwar nichts daraus, beim Sammeln der Einträge strafbare Handlungen zu begehen, aber sie werden nicht töten. Das Buch ist nur... es ist sehr tibetisch. Eine Möglichkeit, die Welt zu beschämen. Ein Mittel, um die Erinnerungen zu bewahren. Aber nicht, um zu töten. Das ist nicht der tibetische Weg.« Shan blickte auf. Weshalb hatte die
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