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Der fremde Tibeter

Titel: Der fremde Tibeter
Autoren: Eliot Pattison
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Gerechtigkeit stets einen so bitteren Geschmack? fragte er sich.
    »Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie...« Fowler verstummte mitten im Satz, als sie feststellte, daß Shan nicht sie, sondern über ihre Schulter hinweg Kincaid ansah.
    »Ich konnte es nicht verstehen, bis ich Jansen mit den purbas sah. Dann wußte ich es auf einmal. Er war das fehlende Bindeglied. Sie haben Jansen die Informationen gegeben. Jansen hat sie an die purbas übermittelt. Die purbas haben sie in das Lotusbuch geschrieben. Sie haben einfach weitergeleitet, was Ihre neuen Freunde Ihnen erzählten, und dabei geglaubt, daß Li, Hu und Wen versuchen würden, eine neue, freundlichere Verwaltung aufzubauen und die alten Wunden zu heilen, indem sie den Tibetern halfen. Sie, Mr. Kincaid, konnten nicht wissen, daß all diese Informationen erlogen waren, und Sie hätten auch nie damit gerechnet, weil alles so rechtschaffen wirkte. Jedermann wollte nur zu gern glauben, daß Tan und Jao diese Taten begangen hatten. Sie haben Ihre Freunde sogar dazu veranlaßt, als Zeichen ihres Engagements Vorräte und Kleidung des Militärs zu stiften. Ein ganzer Lastwagen voller Bekleidung ging an das ragyapa-Dorf, das Ihnen leid tat und von dem Sie durch Luntok erfahren hatten.«
    Rebecca Fowler schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Wovon reden Sie da?« rief sie. »Ein Buch? Sie haben gesagt, die Morde hätten mit diesem Dämon Tamdin zu tun, mit einem Tibeter, der sich verkleidet hat.«
    Shan nickte langsam. »Das Büro für Religiöse Angelegenheiten hat die Bestände der Klöster überprüft. Vor anderthalb Jahren ist man auf das Tamdin-Kostüm gestoßen. Es hatte Sungpos Guru gehört und ist von ihm all die Jahre in einem Versteck aufbewahrt worden. Doch er wurde langsam senil und hat sich vermutlich etwas zu leichtsinnig verhalten. Direktor Wen hat den Bericht, in dem die Entdeckung gemeldet wurde, sofort verschwinden lassen, aber da so viele Angestellte von der Bestandsaufnahme wußten, wurde dennoch eine Fracht an das Museum geschickt, um die Spuren zu verbergen. Das Kostüm jedoch ist nie im Museum angekommen, denn der Bei Da-Verband hatte jemanden aufgetan, der es in seinem Sinne benutzen konnte. Jemanden, für den man kein Alibi benötigte, weil er ohnehin niemals in Mordverdacht geraten würde. Jemanden, der die symbolische Bedeutung in vollen Zügen auskosten würde. Jemanden mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Stark. Furchtlos. Jemanden mit absoluten Überzeugungen im Hinblick auf das tibetische Volk. Jemanden, der glaubte, Rache für die Ausplünderung Tibets nehmen zu müssen.« Und dem es vielleicht auch um Rache am gesamten Rest der Welt ging, fügte Shan in Gedanken hinzu.
    »Einen Mann mit Kieseln zu ersticken, einen nach dem anderen. Einem Mann mit drei Hieben den Kopf abzutrennen. Nicht jeder bringt es fertig, so etwas zu tun. Und auch der Gebrauch des Kostüms erfordert besondere Eigenschaften. Die Tibeter mußten monatelang dafür trainieren, aber hauptsächlich wegen der Zeremonie. Jemand, der sich nicht für das Ritual interessierte, hätte den Umgang mit der Verkleidung sehr viel schneller erlernen können, vor allem jemand, der als Ingenieur ausgebildet ist.«
    Kincaid ging zu der Wand, an der seine Fotos der Tibeter hingen, und starrte die Gesichter der Kinder, Frauen und alten Männer an, als läge darin eine Antwort verborgen. »Falsch«, sagte er mit hohler Stimme. »Sie liegen völlig falsch.«
    Shan stand langsam auf. Kincaid wich ein Stück zurück, als befürchte er einen Angriff. Doch Shan trat an die Konsole. »Nein, ich habe völlig falsch gelegen. Ich konnte nicht glauben, daß eine solche Verachtung und zugleich eine solche Ehrfurcht in ein und derselben Person existieren.« Auf dem Computermonitor waren noch immer die Daten der Yerpa- Karten zu sehen. Es war erstaunlich, wie gut der Amerikaner inzwischen die Tibeter verstand. Nachdem er Yerpa auf den Fotokarten entdeckt hatte, war der Mord an Ankläger Jao in gewisser Weise ein Geniestreich gewesen. Kincaid hatte gewußt, daß die 404te die Arbeit an der Straße einstellen würde. Zweifellos war er davon ausgegangen, der Major würde dafür sorgen, daß die Kriecher zwar die üblichen Schritte einleiteten, letzten Endes der 404ten aber keinen wirklichen Schaden zufügten. Shan betätigte die Taste zum Löschen der Datei.
    Von draußen drang ein neues Motorengeräusch herein. Rebecca Fowler ging zur Tür des Raums und schaute durch das Fenster in der
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