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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß
Autoren: Ketil Bjørnstad
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die an Unterernährung stirbt. Innerhalb weniger Wochen verliert sie alles .«
    »Ja, aber du vergißt eines, Aksel«, sagt Rebecca in ihrer bekannten, rationalen Art. »Die Trauer ist nicht ohne Sinnlichkeit.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Es gibt doch viele Menschen, die in der Trauer zueinanderfinden. Die Trauer frißt sich tief in uns hinein. Das hat Papa einmal gesagt. Sie öffnet uns, macht uns empfindsam. Und was heißt das? Wir werden empfänglich, sehnen uns nach Trost. Wir suchen, ohne daß uns das bewußt ist. Glaubst du nicht?«
    Ich stehe vor der Plattensammlung und betrachte auf einem Cover Dinu Lipatti. Das junge Gesicht. Das Bild muß aufgenommen worden sein, kurz bevor er an Krebs starb. Jetzt weiß ich, welche Musik paßt. »Jesu, Joy of Man’s Desiring«. Die Klavierfassung des Chorals aus der Bach-Kantate Nr. 147 von Myra Hess. Die berühmte Aufnahme aus den fünfziger Jahren. Ich lege die Vinylplatte auf den Teller. Merkwürdigerweise trägt die schlechte Wiedergabe dazu bei, den künstlerischen Genuß zu erhöhen. Seine übersensible Spielweise. Gedämpft bis zum Unerträglichen, als würde bereits der Verstorbene spielen. Gespenstermusik, die das Leben preist.
    Suchen, ohne sich dessen bewußt zu sein? Rebeccas Worte klingen in meinem Kopf, während ich mich frage, ob Dinu Lipatti, als er diese Musik spielte, wußte, daß er krank war und sterben würde. In jedem Fall ist es eine tote Person, die spielt. Sie spielt immer noch für uns. Seelenwanderung durch Technologie. Große Wunder, über die wir längst vergessen haben, uns zu wundern. Ich starre auf die Nadel in den Plattenrillen. Die schwarzen Rillen als Symbol für das Leben des Menschen. Wenn eine LP vierzig Minuten spielt, denke ich, sind das vierzig Minuten in Rillen geprägtes Leben von Dinu Lipatti. Viele Jahre nach seinem Tod stehe ich in einem Ferienhaus an der Küste Südnorwegens, im hohen Norden Europas, und höre Dinu Lipatti, wer er war, wer er sein wollte. Ich kann seine Gedanken nicht lesen, aber das wäre mir auch zu seinen Lebzeiten nicht gelungen. Während ich den Klaviertönen lausche, fällt mir ein, daß Gedanken transformiert werden können. Hätte der Mann, der ertrunken ist und einst Erik getauft worden war, ein Aufnahmegerät gehabt, hätten wir gewußt, wie es ist, dieser Erik zu sein, der an einem Sommertag vor Kilsund, als die Sonne schien und niemand etwas Schlimmes ahnte, sterben mußte.
    Dinu Lipatti spielt, als wäre er am Leben.
    »Diese Musik macht alles noch trauriger und unheimlicher«, sagt Rebecca.
    »Entschuldigung«, sage ich.
Ereignisse am Meer
    Es ist spät, als wir schlafen gehen. Rebecca hat zuviel Wein getrunken. Ihr graut davor, ihren Eltern zu erzählen, was geschehen ist. Ihr graut auch davor, die Tragödie ihrem geliebten Christian zu erzählen, weil er so zartfühlend ist, wie sie sagt, und weil er dieses Ferienhaus liebt – der einzige Ort, an dem er sich von seinem Studium erholen und glückliche Gedanken denken kann.
    Ich bin mir über meine Gedanken und Gefühle noch nicht im klaren. Rebecca hat den ganzen Abend meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Sie, die ständig betont, wie wichtig es ist, glücklich zu sein, denkt jetzt düstere Gedanken. Und vielleicht hat sie recht. Vielleicht öffnet die Trauer. Vielleicht wird man empfänglich. Wir stehen in dem kleinen Flur vor den Schlafzimmern. Sie hält meine Hand.
    »Ich kann heute nacht nicht allein schlafen«, erklärt sie.
    Ich sehe ihr Schlafzimmer vor mir, mit dem Doppelbett, vorbereitet auf künftige Ehenächte mit dem zartfühlenden Christian, mit dem sie sich an Mittsommer verlobt hat. Ein großes Fest, mit Schubert im Freien, das Hindar-Quartett unter Apfelbäumen, die Liebeslieder von Grieg, dargeboten von Ingrid Bjoner persönlich. Die Fenster des Zimmers gehen nach Osten, fangen das erste Morgenlicht. Rebeccas Vater wollte immer auf alles beizeiten vorbereitet sein.
    »Ich kann auf dem Boden schlafen«, sage ich pflichtschuldigst.
    »Willst du das tun?« sagt sie und drückt mich kurz an sich. »Da brauchst du eine Matratze.«
    »Ich brauche wirklich keine Matratze«, sage ich und verstehe nicht, warum ich das sage. Ich spüre jetzt meine Arme, sie schmerzen vom Hochwuchten der Schiffbrüchigen. Und ein Ziehen im Kreuz spüre ich ebenfalls.
    »Du willst dich auf den blanken Fußboden legen?« fragt sie ungläubig.
    »Ist da kein Teppichboden?« sage ich und versuche, witzig zu sein.
    »Nein«, sagt sie kurz. »Eichenparkett.
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