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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Ferienhaus der Frosts fehlen werden, die Musik, die wir auflegten und die ich wieder auflegen werde, allein. Die Gespräche über das Leben, über die Zukunft. Die gesalzenen Garnelen. Der trockene Wein. Tschaikowskis Streicherserenade. Ich will diese plötzliche Distanz nicht. Ich lege behutsam eine Hand auf ihr Knie.
    »Laß das«, sagt sie, beide Hände am Lenkrad und die Augen unverwandt auf die Straße gerichtet. Ich betrachte sie im Profil. Wie gut sie aussieht, denke ich. Die teure Sonnenbrille steht ihr. Und trotzdem hat das Leben sie hart angepackt. Nächstes Jahr wird sie zwanzig. Sie hat bereits eine Pianistenkarriere hinter sich, ein Debütkonzert, an das man sich erinnern wird, nicht an die Musik, die sie darbot, sondern weil sie über ihr eigenes Kleid stolperte. Kleine, schnelle, aber entscheidende Fehler. Wie der von heute nacht.
    Wir sprechen erst wieder kurz vor Porsgrunn.
    »Du mußt mir Zeit lassen, Aksel«, sagt sie. »An diesem Tag ist einfach zuviel geschehen. Verstehst du?«
    »Ja.«
    »Was wirst du diesen Herbst machen? Das Abitur nachholen? Das solltest du tun. Jeder braucht eine Ausbildung.«
    »Vielleicht. Mal sehen, was Selma Lynge meint.«
    »Selma Lynge? Sie will nur neue Klaviervirtuosen hervorbringen. Die große Pädagogin braucht dringend einen großen Erfolg, nachdem sowohl ich wie Anja versagt haben. Wirst du dieser Erfolg sein? Ja, das wird sie sich wünschen. Du mußt dich hüten vor ihr, Aksel. Sie ist falsch. Sie hat Anja in den Abgrund gestürzt. Hat Selma eigentlich jemals über Anjas Tod getrauert?«
    In mir zieht sich etwas zusammen, als sie das sagt. Ich habe selbst daran gedacht. Vor einer Frau wie Selma Lynge muß man sich hüten. Aber wie soll ich das anstellen? Sie hat schließlich ganz auf mich gesetzt. Es ist zu spät, jetzt abzubrechen.
    »Wir sind in derselben Situation, du und ich«, sage ich und zünde ihr die Zigarette, die sie sich zwischen die Lippen gesteckt hat, mit dem Anzünder vom Armaturenbrett an. »Wir haben ja zu etwas gesagt, haben ein Versprechen gegeben, das wir nicht brechen wollen. Im Augenblick ist Selma Lynge der einzige Halt, den ich habe.«
    »Mich hast du auch«, sagt sie nüchtern und zieht den Rauch tief ein. »Uns verbindet das Schicksal, vergiß das nicht. Uns verbindet ein Geheimnis. Uns verbindet eine Lüge.«
Weltschmerz
    Spätsommer in Oslo. Selma Lynge macht mit ihrem Philosophen noch Urlaub in München. Morgens sitze ich am Küchenfenster meiner Wohnung in der Sorgenfrigata und beobachte die Spatzen. Jeden Vormittag, sobald Frau Evensen in der Wohnung unter mir zur Arbeit gegangen ist, übe ich auf Synnestvedts altem Blüthner, der dringend gestimmt werden müßte. Nachmittags radle ich hinaus nach Bygdøy, suche mir einen glatten Felsen am Ufermit Ausblick nach Fornebu und den Flugzeugen, die Richtung Süden starten, betrachte die Mädchen in ihren Bikinis und erinnere mich, was zwischen mir und Rebecca geschah. Ich höre die Musik, die meine Altersgenossen auf ihren kleinen, tragbaren Plattenspielern spielen oder die aus den rosafarbenen oder hellblauen Kofferradios tönt. Musik, mit der mich nichts verbindet, die ich aber immer besser kenne, weil sie mich überall umgibt, die Rolling Stones und die Beatles, ja, ich kann schon die Texte, ertappe mich dabei, die bekanntesten Songs mitzusummen, solche, die schon jahrelang Schlager sind. »Can’t buy me love.«
    Da sitze ich und sehe aus wie die anderen, fühle mich aber nicht wie diese braungebrannten Jungen mit langen, blonden Haaren, die dicht bei den Mädchen liegen, sie mit Sonnencreme einschmieren, mit den Fingern schnippen, wenn die Rolling Stones loslegen, und in tiefen Zügen Zigaretten rauchen.
    Es ist ungewohnt, allein zu leben, ohne Mutter und ohne Cathrine. Ungewohnt, nicht im Elternhaus in Røa zu sein. Jeden Samstag stehe ich im Untergeschoß der Musikalienhandlung an der Karl Johan und verkaufe Noten. Ich habe Geldprobleme, habe in der letzten Zeit über meine Verhältnisse gelebt. Ich kann mir keine Noten leisten und leihe mir heimlich die am wenigsten nachgefragten Komponisten aus. Das ist kein Diebstahl, denke ich. Eines Tages werde ich alle zurückgeben. Auf diese Weise lerne ich Prokofjew und Skrjabin spielen. Oben in der Plattenabteilung erfahre ich alles über die neuesten Aufnahmen. Aber irgendwie habe ich gar keine Lust mehr, Klaviermusik zu hören. Ich sehne mich nach einem anderen Ausdruck, nach anderen Klängen als die, die ich Tag für Tag höre, wenn
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