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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß
Autoren: Ketil Bjørnstad
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mehr soviel Angst vor dem Wiedersehen mit Selma Lynge. Es war Herbst, als ich Anja Skoog kennenlernte. Im Herbst trifft man neue Freunde und knüpft künftige Beziehungen. Im Herbst debütieren die jungen Talente. Im Herbst ist Parlamentswahl und Schicksalswahl. Im Herbst kommen die größten Solisten und spielen mit der Philharmonie. Heuer wird Swjatoslaw Richter kommen, denke ich auf meinem Sitzplatz in der Straßenbahn. Die Straßenbahn war immer der Weg zur Musik. Die Straßenbahn war der Weg zur Stadt, fort von der Vorstadtidylle und der Geborgenheit.
    Und hinterher, wie eine Bedingung, brachte uns die Straßenbahn sicher zurück in unsere Vorstadtleben. Zurück nach Røa, der Haltestelle, die ich besser kenne als jede andere, wo die Wohnhäuser nicht auffällig groß sind, wo einmal ein Bauernhof war, ein gutes Stück entfernt von den Gütern Bogstad und Fossum. Ich denke an Anja und an meine Mutter. Marianne Skoog ist Anjas Mutter. War es. Ich frage mich, ob sie wieder im Elvefaret ist, ob sie trauert, ob sie krank geschrieben ist, ob sie den verfluchten Tatort verkaufen will. Wenn ich Elvefaret hinuntergehe bis zum Erlengebüsch, erfahre ich vielleicht mehr. Da stehe ich nun in der vertrauten Gegend, und plötzlich beschleicht mich ein komisches Gefühl. Ich habe im Grunde kein Ziel, kein wirkliches Motiv für mein Hiersein. Wo finde ich mich hier?Beim Wasserfall, wo Mutter ertrank? In dem Haus, in dem Cathrine und ich unsere Kindheit verlebten?
    Meter um Meter passiere ich meine eigene Vergangenheit. Da bin ich mal gestolpert. Dort führt der Weg zum Zigeunerfelsen und zum Wasserfall. Da hörte ich an einem Herbstabend Anjas Schritte. Da lag der Stein, wo mich die Brüder des Nachbarn einmal verprügelten. Wieder in der Kindheit, in der Erniedrigung, der Langeweile, der flüchtigen Vertrautheit mit den Erwachsenen. Kein Ausgleich für das Alleinsein. Zurückgekehrt ins Land der Ängste. Es ist an einem Dienstag im September 1970. Ich gehe den Melumveien hinunter, bin verlegen. Schäme mich irgendwie. Daß es da etwas gibt, mit dem ich nicht fertig werde, das mich an dieses anspruchslose, schöne und zugleich so traurige Tal bindet. Ich bleibe vor dem Elternhaus stehen, schaue auf unsere Fenster, aus denen fremde Menschen schauen, wenn überhaupt jemand zu Hause ist. Es ist beinahe eine Provokation, daß mein Elternhaus, dieses gewöhnliche gelbe Haus, leer ist. Wissen sie nicht, daß ich in diesem Augenblick vorbeigehe? Ich, Aksel Vinding. Erfahren in der Liebe. Eine tiefe und komplizierte Natur.
    Und auf der anderen Seite des Flusses: Selma Lynge, die auf ihr junges Genie wartet.

    Am Lichtmast vor dem Elternhaus fällt er mir ins Auge, der weiße Zettel: »Zimmer zu vermieten. Ideal für musikbegeisterten Studenten. Konzertflügel vorhanden. Geringe Miete, wenn kleinere Gartenarbeiten erledigt werden. Interessenten bitte wenden an Marianne Skoog« usw.
    Ich fange an zu würgen, übergebe mich, sehe einen Schatten in meinem ehemaligen Schlafzimmer. Ein Zeuge. Aber er oder sie können keine Diagnose stellen. Ich weiß nicht einmal, ob es eine Krankheit ist. Es ist eine Sehnsucht. Ein Schock. Marianne sucht einen Mieter. Anjas Zimmersteht leer. Ich erröte, aus Scham ebenso wie vor Freude. Ich könnte also, wenn mir das Geld reicht, zurückkehren in ihre Welt. Aber will ich das denn? Ist es vernünftig? Was würde Mutter dazu sagen? Ich stehe neben dem Lichtmast, schlucke und denke. Es ist schon Nachmittag, und die Menschen kommen von der Arbeit nach Hause. Der Septemberhimmel färbt sich rot. Jetzt kann alles geschehen. Kleine Entscheidungen. Große Irrtümer. Mariannes Annonce trifft mich wie eine Kanonenkugel in die Magengrube. Ich habe kein Geld. Viel zu lange habe ich den Entschluß vor mir hergeschoben. Daß ich die Wohnung in der Sorgenfrigata vermieten müßte. Daß ich es mir nicht leisten kann, dort zu wohnen. Daß die Klavierstunden bei Selma Lynge Geld kosten. Daß ich einen besser bezahlten Job haben müßte. Daß ich nichts unternommen habe, weil ich einen Ort zum Üben brauche. Bei Marianne kann ich üben. Bei Marianne kann ich bei Anja sein, in ihrem Bett schlafen, in ihren vier Wänden leben, die Träume träumen, die ihr nicht mehr vergönnt waren, auf den Tasten spielen, die sie so liebte. Ebenholz. Elfenbein. Was wäre die Geschichte des Pianos ohne den Elefanten?

    Zögernd gehe ich den Melumveien hinunter zum Elvefaret. Als hätte sich meine Kindheit selbst eingesperrt, wäre zu einem
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