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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß
Autoren: Ketil Bjørnstad
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ich still im Künstlerfoyer und fühle mich zerbrechlich und nackt, wie das Skelett eines Vogels.
    Ist das nicht einfach nur Eitelkeit? denke ich. Ein Haschen nach dem Wind?
    Dann gehe ich hinaus zu W. Gude, der geduldig gewartet hat und mit seinen schwarzen Schuhen tippt.
    »Tut mir leid«, sagt er, »aber Zeitkontrolle bedeutet etwas in einer solchen Situation. Kann ich noch etwas für dich tun?«
    »Du kannst das Konzert für mich geben.«
    Er lacht laut. Das bekannte Pferdegewieher.
    »Du bist ein Witzbold«, wiehert er. »Es wird klappen. Die ganze Welt wartet!«
    »Danke«, sage ich. »Bringen wir es hinter uns.«
    »Ich gebe dir noch einen guten Rat«, sagt W. Gude. »Nicht denken, wenn du auf dem Podium sitzt. Nur konzentrieren.«
Am Rande des Abgrunds
    W. Gude verläßt mich, eine Minute bevor ich hinaus muß auf das Podium. Jetzt bin ich allein mit dem Hausmeister, der kein Wort sagt. Seine einzige Aufgabe besteht darin, mir die Tür aufzuhalten, so wie ich einmal für Anja Skoog die Tür aufgehalten habe.

    Da verlöscht das Licht. Dann verstummen die Gespräche. Dann gehe ich hinaus auf das Podium mit dem gelb lackierten Boden vor Munchs ›Sonne‹.
    Sie klatschen für mich. Ich fühle eine Art Verlegenheit. Bin das wirklich ich , der hier heute abend spielen soll? Der die Aufmerksamkeit dieser Menschen mehr als eineinhalb Stunden in Beschlag nehmen soll?
    Ich fühle mich da oben fremd und fehl am Platze.
    Als erstes sehe ich, daß Cathrine im Saal sitzt. Sie ist also wegen mir rechtzeitig zurückgekommen. Das rührt mich. Sie ist meine Schwester. Auch sie liebte Anja und fuhr um die halbe Welt, um über den Verlust hinwegzukommen. Während ich das Gegenteil machte, zu Hause blieb und Anjas Mutter heiratete.
    Aber sie weiß es noch nicht.
    Dann erblicke ich Selma Lynge und ihre prominenten Freunde. Ich dachte, sie würden mich nervös machen. Doch das ist nicht so. Sie spornen mich an. Ich habe Lust, ihnen etwas zu zeigen. Daß ich etwas kann. Daß die Musik nach neun Monaten Schwangerschaft ein Teil von mir geworden ist. Daß ich mich sicher fühle, weil Marianne da sitzt und mich sieht, mir aufmunternd zulächelt. Weil ich weiß, daß sie mir alles Gute wünscht, weil sie unser Kind im Bauch hat.
    Weiter wage ich nicht zu schauen.

    Das Zittern kommt mit Fartein Valen. Zwei Präludien für Klavier, op. 29. Die wenigsten kennen diese Musik. Ich fühle mich kraftlos, aber niemand kann es hören. Ich schwitze an den Fingern. Ich merke, daß mir die Gedanken entgleiten, daß ich unkonzentriert werde, daß ich auf einmal erschöpft bin. Valen, denke ich. Er hat nie geheiratet. Er war tief religiös, beherrschte neun Sprachen und züchtete Rosen. Er arbeitete mit dem dissonierenden Kontrapunkt. Aber diese Gedanken sind gefährlich. Ich erinnere mich an W. Gudes Rat. Nicht denken. Nur konzentrieren.
    Das hilft.

    Der Applaus nach den zwei Präludien ist höflich, etwas reserviert. Nur wenige mögen Fartein Valens atonale Musik. Manche werden das sicher für einen ungewöhnlichen Anfang eines Debütkonzertes halten.
    Ich lasse mir nichts anmerken. Jetzt kommt die ersteBewährungsprobe. Prokofjews 7. Sonate. Da passiert etwas in meinem Kopf, als ich mich nach dem Applaus setze. Als stellte ich Erwartungen an mich selbst. Als hätte ich das Gefühl, daß das Leben etwas für mich bereithält, daß ich mich vor einer großen Freude befinde, nach einer großen Trauer. Daß ich etwas Wichtiges vermitteln möchte.
    Das Zittern verschwindet. Der Schweiß auf den Fingern auch. Ich beginne mit den ersten, zornigen Oktav-Phrasen, dem irritierenden ersten Satz, der so hitzig und stechend ist, fast böse. Technisch geht es tadellos, aber erst im zweiten Satz finde ich Gewicht und Empfindung, das, was das Klavierspiel über das Gewöhnliche erhebt. Ich erlaube mir zu denken, daß das gut ist. Ich erlaube mir, zu glauben, daß ich es schaffe, etwas Gefühltes zu vermitteln, etwas Erlebtes, etwas Wesentliches.
    Nicht denken, Aksel. Nur konzentrieren.

    Es scheint, als sei die Sonate vorüber, bevor sie begonnen hat. Die letzten wahnsinnigen Oktavkaskaden am Ende des letzten Satzes sitzen wie ein Schuß. Das Instrument ist zum Glück scharf genug intoniert, um die Energie zu vermitteln. Es klingt großartig. Ich kann es selbst hören. Das gewaltige Crescendo. Ich habe genug Kraft. Ich habe Marianne den halben Brunkollen runter auf dem Rücken getragen. Jetzt mache ich das wieder. Und ich komme ohne einen Patzer durch.
    Der
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