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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß
Autoren: Ketil Bjørnstad
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tiefer noch als Herzeleid. Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit. Will tiefe, tiefe Ewigkeit!‹«
    Ich betrachte ihren Arm, während ich diesen Text zitiere. Ich sehe plötzlich, daß sie eine Gänsehaut bekommt.
    »Sprich nicht weiter«, sagt sie. »Bitte. Nicht weitersprechen.«
    »War es so furchtbar?«
    »Ja, furchtbar. Es traf mich mitten ins Herz. Ich möchte jetzt nicht daran erinnert werden. Es war, als würden plötzlich Anja und Bror im Zimmer stehen …«
    »Entschuldigung«, sage ich.
    »Da gibt es nichts zu entschuldigen.«
    »Aber von da an ist die Sinfonie nur versöhnlich …«
    »Ich will nichts mehr hören!« sagt sie.
    »Aber du mußt es hören!« beharre ich.
    Und so viele Jahre später weiß ich nicht, ob nicht die letzten Satzüberschriften, obwohl sie nur positiv sind, das auslösten, was sofort geschehen sollte. Daß sie sich von mir betrogen fühlt, daß ich die Signale nicht verstehe, die sie aussendet, daß von nun an jedes Wort gefährlich sein kann.
    »Der vorletzte Satz heißt ›Was die Engel erzählen‹. Und der letzte Satz heißt ›Was die Liebe erzählt‹.«
    »Dann ist es zu spät«, sagt sie heftig und befreit sich mit einer ungeduldigen Bewegung von mir. Sie ist wütend,aufgebracht. Sie geht ins Bad, knallt die Tür hinter sich zu. Ich setze mich aufs Bett, wie gelähmt. Was habe ich gesagt, daß sie so außer sich gerät?

    Ich höre keinen Laut im Bad. Ich wage nicht, sie zu rufen. Weint sie? Oder ist sie nur wütend auf mich? Ich bin krank vor Angst.
    Eine Viertelstunde vergeht. Da halte ich es nicht länger aus.
    »Marianne!« rufe ich. »Fehlt dir etwas?«
    Sie antwortet nicht. Da wird mir kalt. Da denke ich das Schlimmste.
    Ich werfe die Decke zu Boden und laufe zur Badezimmertür, voller Angst, sie könnte verschlossen sein. Aber sie ist Gott sei Dank offen.
    Marianne sitzt auf der Kloschüssel und zittert. Sie zittert so stark, wie ich noch nie einen Menschen habe zittern sehen. Sie blickt mit leeren Augen starr vor sich hin. Ich schaffe es nicht, daß sie mich anschaut.

    Ich trage sie zum Bett. Sie läßt mich gewähren. Ich trage sie wie ein Kind auf meinen Armen. Sie hat kein Gewicht. Ich hätte sie bis heim nach Norwegen tragen können. Sie zittert. Sie friert. Ich lege sie unter die Decke. Danach lege ich mich, so ruhig ich kann, neben sie. Ich sage kein Wort. Ich streiche ihr über den Kopf. Ich zittere ebenfalls von dem Schock.
    »Verlaß mich nicht«, flüstert sie mit starrem, seltsamem Blick.
    »Ich verlasse dich nie«, sage ich.

    Trotzdem will sie, als es abend wird, daß ich in das Konzert gehe. Sie sitzt im Bett, hat eine Tablette genommen. Ich weiß nicht, was es ist.
    »Natürlich mußt du gehen«, sagt sie. »Ich bestehe darauf. Es ist schließlich meine Morgengabe!«
    »Ich gehe nicht ohne dich.«
    »Aber du mußt. Das ist nicht schlimm, mein Junge. Das war nur eine Panikattacke. So etwas habe ich schon öfter gehabt. Ich bin Ärztin. Panikattacken gehen vorüber. Aber ich muß wieder zu Kräften kommen. Man ist danach völlig entkräftet, verstehst du.«
    Sie sagt das so pädagogisch und ärztemäßig, daß es ihr damit gelingt, mich zu beruhigen. Und als sie später darauf beharrt, sagt, ich müsse um ihretwillen gehen, sie würde im Zimmer bleiben, fernsehen und Champagner trinken, gehorche ich, gehe ins Bad, dusche lange und ziehe den Anzug an.

    Aber schon, als ich die Hoteltür hinter mir zumache, spüre ich, daß es ein Fehler ist, daß ich nicht hätte gehen sollen. Von diesem Konzert würde ich ohnehin nichts haben.
    Es hat aufgehört zu regnen. Ich gehe den kurzen Weg hinüber zum Musikverein. Es ist ein unwirkliches und einsames Gefühl, so allein zu gehen. Ich zerbreche mir den Kopf, was an den Überschriften sie so getroffen haben könnte. War es der Imperativ der Trauer: Vergeh!? Wogegen sie in all diesen Monaten seit Oktober angekämpft hat. Jetzt, wo sie sich ganz bewußt ein Kind mit mir wünscht. Als ob ein Kind mehr zu ihrer Lebensversicherung werden könnte als ich mit meiner Anwesenheit.

    Der Musikverein ist überwältigend. Ich bin noch jung und übermütig. Natürlich denke ich: Werde ich dort einmal spielen? Ich setze mich in die fünfte Reihe, direkt beim Mittelgang. Phantastische Plätze. Der Sitz neben mir ist natürlich leer. Aber sobald das Licht ausgeht, kommen die Studenten von ihren Stehplätzen ganz hinten angelaufen, genauwie daheim in der Aula in Norwegen. Eine junge Frau, eine schöne Mulattin mit
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