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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß
Autoren: Ketil Bjørnstad
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gelocktem Haar, setzt sich neben mich, auf Mariannes Platz. Der Fleck an ihrem Hals verrät mir, daß sie Violine oder Bratsche studiert.
    Abbado kommt herein und nimmt den Applaus entgegen. Das Konzert beginnt. Ich denke an die Zufälle des Lebens. Daß ich hier sitze, auf diesem Platz, und krank bin vor Angst. Einige Wochen ist es gutgegangen, mit der starken Marianne. Jetzt sind wir wieder soweit wie im Oktober. Ich stelle mir vor, was sie in diesem Augenblick macht oder denkt. Sie kann so vieles anstellen allein in dem Hotelzimmer.
    Und ich kann einfach nicht stillsitzen. Mitten im ersten Satz, in den brutalsten und unheimlichsten Partien, stehe ich auf, entschuldige mich flüsternd bei der jungen Frau neben mir und gehe den Mittelgang zurück zu den Stehplätzen. Wer ist so verrückt, ein Konzert mit Abbado im Musikverein freiwillig zu verlassen? Ich sehe nicht einmal krank aus. Trotzdem habe ich das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden.
    Ich bahne mir den Weg durch die stehenden Menschen. Ich störe ein Musikerlebnis für mehr als tausend Menschen. Ich werde für alle Anwesenden der sein, dem während eines Abbado-Konzertes übel wurde. Ich pfeife darauf. Ich will so schnell wie möglich zurück ins Hotel Sacher. Es ist befreiend, hinaus an die Luft zu kommen. Ich renne den ganzen Weg und bin außer Atem, als ich endlich vor der Tür des Hotelzimmers stehe und anklopfe.
    »Ja?« höre ich von innen.
    »Ich bin es«, rufe ich.
    Sie öffnet die Tür, wirkt blaß, aber ruhig. Wer zittert, bin ich. Und ich weine jetzt. Sie nimmt mich in den Arm.
    »Aber Junge, warum weinst du denn? Du mußt nicht weinen!«
Blue
    Mein Alltag beginnt mit einer bösen Überraschung. Ich merke, daß ich technisch weit zurückgefallen bin, daß ich zuviel getrunken habe und mich zittrig fühle, obwohl seit unserer Rückkehr schon eine Woche vergangen ist.
    Ich höre fast ganz auf, Wein zu trinken, merke aber, daß Marianne mehr trinkt als je zuvor, als brauche sie den Alkohol zur Beruhigung. Sie erklärt mir:
    »Mach dir keine Sorgen wegen meines Alkoholkonsums. Das ist nur kurzzeitig. Außerdem sollst du dich im Moment nicht auf mich konzentrieren. Du mußt Klavier üben, mein Junge. Ich komme zurecht.«

    Sie arbeitet wieder ganztags. Vielleicht ersetzt der Wein die Medizin, die sie genommen hat, denn ich sehe sie nie mehr Tabletten schlucken. Nach einigen Wochen erscheint ein merkwürdiger Ausdruck in ihren Augen, aber ich sage nichts. Da sagt sie es von sich aus, an einem Nachmittag im Mai, als der Flieder und die Obstbäume blühen.
    Ich sitze wie üblich am Klavier und übe. Sie kommt leise von hinten, streicht mir vorsichtig über die Schulter. Sie hat mich noch nie unterbrochen. Aber ich lasse mich gerne unterbrechen.
    »Hast du gemerkt, daß ich aufgehört habe, die Tabletten zu nehmen?« sagt sie und schaut mich mit einem weichen, seltsamen Blick an, den ich nie vergessen werde.
    »Ja«, sage ich. »Aber ich habe mich nicht getraut, dich zu fragen, warum.«
    »Seit heute weiß ich, warum«, sagt sie und beugt sich über mich, als wolle sie unsere besondere Verbundenheit zeigen. Das hat sie noch nie gemacht.
    »Ich bin schwanger«, sagt sie.

    Ein Gewicht ist zwischen uns, ein Raum ist entstanden, in dem wir beide sein können. Für sie ist es wichtig, daß dasGroße, das geschehen ist, mich nicht durcheinanderbringen soll. Es ist ihr auch wichtig, zu sagen, daß ein Kind die Karriere, die ich im Begriff bin, aufzubauen, nicht behindern wird. Der Termin ist nicht vor Januar. Dann wolle sie sich freinehmen, sagt sie. Ein ganzes Jahr. Sie freue sich irrsinnig darauf.

    An den Abenden reden wir über das, was sich kaum in Worte fassen läßt.
    »Freust du dich?« sagt sie.
    »Sehr«, sage ich.
    »Du wirst ein wundervoller Papa«, sagt sie.
    »Zusammen mit dir«, sage ich.
    »Ich kann nicht Papa werden«, sagt sie.
    »Dummchen«, sage ich.
    »Aber zuerst mußt du debütieren«, sagt sie.

    Ich übe, gehe häufiger zu Selma Lynge, bis Juni ist nicht mehr lange. Sie weiß nicht, daß ich Marianne geheiratet habe, weiß nicht, daß wir ein Kind erwarten. Es ist besser so. Ich merke, daß Selma Lynge diese Stunden mehr braucht als ich. Sie ist jetzt die Nervösere. Nicht alle, die sie eingeladen hat, werden zu dem Konzert und dem Seminar kommen. Boulez kommt nicht. Pollini auch nicht. Aber andere Namen, die ich vom Hörensagen kenne. Es werde in jedem Fall ein großes Fest, versichert mir W. Gude.
    Ich übe mit einem Gefühl, daß
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