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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß
Autoren: Ketil Bjørnstad
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etwas Großes geschehen wird, daß das Kind, das kommen wird, die Züge der Mutter und die von Anja haben wird. Deshalb bin ich wegen des Konzertes weniger nervös. Ich habe es in mir. Ich muß sogar aufpassen, daß mir die Stücke nicht langweilig werden, daß ich die Musik nicht mehr spüre, daß ich unbewußt und automatisch spiele.

    Eines Tages kommt Marianne mit »Blue« nach Hause, der neuen Platte von Joni Mitchell. Sie ist aufgeregt wie ein Schulmädchen.
    »Stell dir vor«, sagt sie und hüpft vor mir auf und ab. »Zehn neue Songs!«

    Am gleichen Abend spielen wir »All I Want« zum erstenmal. Wir spielen »My Old Man«, »Little Green«, »Carey« und »Blue«. Wir spielen »California«, »This Flight Tonight« und »River«.
    Der letzte Song bewegt sie besonders. »Der Fluß«, denke ich, der sich in so vielen Formen verwirklicht. In Joni Mitchells Version ist er nicht nur eine Melodie. Er ist auch ein Text. »Oh I wish I had a river, I could skate away on.«
    Marianne steht abrupt von der Couch auf und geht zum
    Plattenspieler.
    »Ich mag nichts mehr hören«, sagt sie kurz.
    Ich wage nicht zu fragen, warum. Ich weiß nur, daß sie »A Case Of You« und »The Last Time I Saw Richard« noch nicht gehört hat.
    Ab jetzt hören wir nicht mehr zusammen Musik. Sie arbeitet den ganzen Tag, läßt mich während der Vorbereitung zum Konzert möglichst viel allein. Am Abend sitzen wir nur und reden, und ich merke, daß auch ich genug habe von der Musik. Die sieben Stunden, die ich am Steinway sitze, sind genug.
Vorbereitung auf den Tag des Gerichts
    Der Juni kommt. Ein ganz anderer Juni als früher. Ein Juni mit Marianne. Ein Juni für meinen ersten Konzertabend in der Aula. Der Juni 1971, der nur einmal in der Geschichte kommt, der nie wiederkommen wird.
    Selma Lynge ist jetzt besonders genau. Sie zwingt mich, meine Tempi zu erhöhen, um zu testen, ob meine Technik das aushält. Besonders testet sie den letzten Satz der Sonate von Prokofjew, der ja wie ein Maschinengewehr ist, ein Kriegsbombardement ohnegleichen in der Klavierliteratur.
    »Wozu braucht man noch Rock ’n’ Roll, wenn man das hier hat?« sagt Selma Lynge und lächelt befriedigt, überzeugt davon, witzig zu sein.
    Aber ich sehe, daß ihre Nerven blank liegen. Sogar Torfinn Lynge kichert nicht mehr. Statt dessen flüstert er, wenn ich jeden zweiten Tag zur verabredeten Zeit komme, mit einem Finger auf den Lippen: »Endlich. Sie wartet im Wohnzimmer auf dich.«
    Dann geht er auf Zehenspitzen zur Tür und läßt mich ein.

    In der vorletzten Unterrichtsstunde vor dem Konzert, am Samstag, dem 5. Juni, ist Selma Lynge nervöser denn je. Das wirkt ansteckend auf mich. Sie gibt mir das Gefühl, daß so vieles schiefgehen kann. Ich sage es ihr.
    »Ja«, antwortet sie, »auch darüber müssen wir sprechen. Denk nur an das Konzert von Horowitz in der Carnegie-Hall.«
    »Ja, Cathrine schenkte mir die Platte zum achtzehnten Geburtstag«, sage ich.
    »Alle warteten auf ihn, nach einem Jahr der Abwesenheit. Alle wußten, daß er Probleme mit den Nerven hatte. Alle wollten, daß er wieder spielt. Und was passiert ihm als erstes bei diesem Konzert?«
    »Er spielt falsch«, sage ich.
    »Genau. Ein haarsträubender Patzer in der ersten Phrase von Busonis Klaviertranskription von Bachs ›Toccata, Adagio und Fuge‹. Versuche nachzuempfinden, was er in demAugenblick gefühlt haben muß. Versuch nachzuempfinden, wie sich ein Favorit fühlt, wenn er beim Eiskunstlauf im Kampf um die Goldmedaille stürzt. Stell dir vor, wie man vor aller Welt die Fassung verliert, seine Unfähigkeit offenbart. Stell dir vor, daß du, wie Anja, auf einmal herausfliegst. Und ihr ist es zu allem Überfluß zusammen mit der Oslo-Philharmonie passiert. Der Dirigent, dieser Trottel, beging überdies den Kardinalfehler, daß er in der Partitur zurück ging, statt einige Takte nach vorne zu springen. Daran mußt du denken, Aksel. Ich habe es dir schon früher gesagt, aber ich sage es nun noch mal ausdrücklich: Du mußt kleine Phrasen üben. Jetzt, in den letzten Tagen, mußt du mindestens zwei Stunden pro Tag dafür verwenden, aus den Stücken heraus- und wieder hineinzuspringen. Wenn du herausfliegst, mußt du in deinem Kopf denken: Wo ist die nächste Phrase? Wo kann ich wieder einsetzen?«
    Sie macht mich sehr nervös, wenn sie das sagt, obwohl ich schon detailgetreu übe, seit ich mein Repertoire kenne. Aber jetzt, so knapp vor dem Konzert, kann ich mich, vielleicht weil mich Marianne
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