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Der Fluch des Verächters - Covenant 01

Der Fluch des Verächters - Covenant 01

Titel: Der Fluch des Verächters - Covenant 01
Autoren: Stephen R. Donaldson
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diesem Moment entschied er sich fürs Überleben.
    Thomas Covenant blieb länger als sechs Monate im Leprosorium. Er verbrachte die Zeit damit, durch die Korridore zu streifen wie ein aus Fassungslosigkeit ratloses Gespenst, übte sich in der VBG und anderen Überlebenstricks, stierte sich durch stundenlange Beratungen mit den Ärzten voran, lauschte Lektionen über die Lepra, über Therapien und Rehabilitation. Bald hatte er gelernt, daß die Ärzte in geduldiger Anwendung von Psychologie den Schlüssel zur Leprabehandlung enthalten glaubten. Sie wollten seine Ratgeber sein. Aber er verweigerte jedes Gespräch über sich selbst. Tief in seinem Innern war ein harter Kern aus unversöhnlicher Wut im Entstehen begriffen. Er hatte feststellen müssen, daß durch irgendeinen bitterbösen Witz seiner Nerven die beiden verlorenen Finger für den Rest des Körpers gegenwärtiger zu sein schienen als die ihm verbliebenen Glieder. Sein rechter Daumen suchte ständig den Kontakt mit den abgetrennten Fingern; und mit einer linkischen Gebärde der Überraschung fand er immer wieder nur die Narbe vor. Die Unterstützung durch die Ärzte schien diesem Phänomen zu ähneln. Ihre wenigen, leblosen Vorstellungen von Hoffnung erregten in ihm den Eindruck des Umhertastens einer Fantasie ohne Finger. Und so endeten diese Beratungen wie die Lektionen, als lange Vorträge von Fachleuten auf dem Gebiet der Probleme, mit denen er, Thomas Covenant, sich auseinandersetzen mußte. Über Wochen hinweg rieselten diese Vorträge auf ihn ein, und er begann davon zu träumen. Ermahnungen beherrschten die verwüstete Spielwiese seines Geistes. Statt Ereignisse und Leidenschaften träumte er Zusammenfassungen.
    ›Lepra ist vielleicht die unerklärlichste aller menschlichen Heimsuchungen‹, ging es ihm Nacht für Nacht durch den Kopf. ›Sie ist ein Geheimnis, so wie die seltsame, kleine Differenz zwischen lebender und toter Materie ein Geheimnis ist. Oh, wir wissen einige Dinge über sie: Sie verläuft nicht tödlich. Sie ist in keiner herkömmlichen Hinsicht direkt übertragbar. Sie wirkt sich aus, indem sie die Nerven zerstört, typischerweise in den Extremitäten und in der Kornea der Augen. Sie erzeugt Deformationen, hauptsächlich weil sie die Fähigkeit des Körpers herabsetzt, sich durch Spürsinn und Reaktionen auf Schmerz gegen Beschädigungen zu schützen. Sie kann in vollständige Invalidität, extreme Deformation des Gesichts und der Extremitäten und Blindheit münden. Ihr Verlauf ist irreversibel, weil die abgestorbenen Nerven sich nicht ersetzen lassen. Ebenso wissen wir, daß man in nahezu allen Fällen durch die richtige Behandlung mit DDS – Diaminodiphenylsulfonamid – und einigen der neuen synthetischen Antibiotika die Ausbreitung des Leidens zum Stillstand bringen kann und daß, sobald dem Verfall des Nervensystems Einhalt geboten ist, eine angemessene Medikation und Therapie das Leiden für das restliche Leben des Patienten unter Kontrolle gehalten werden kann. Wir wissen jedoch nicht, warum und wie sich gerade diese oder jene Person die Krankheit zuzieht. Was unsere Möglichkeiten des Nachweises betrifft, so kommt sie grundlos aus dem Nichts. Und wenn man sie erst mal hat, ist alles ganz klar: Man kann nicht hoffen, davon irgendeine Heilung zu erlangen.‹
    Die Worte, welche er träumte, enthielten keinerlei Übertreibungen – sie hätten wörtlich von irgendeinem aus dem Dutzend von Referenten oder einer beliebigen der vielen Beratungen stammen können –, aber ihr Dröhnen klang nach der Androhung von etwas so Unerträglichem, daß es nicht einmal hätte ausgesprochen werden dürfen.
    ›Was wir in langen Jahren der Forschung erarbeitet haben‹, erläuterte die unpersönliche Stimme des Arztes weiter, ›ist die Einsicht, daß Hansens Krankheit den Patienten vor zwei einzigartige Probleme stellt – in gegenseitiger Wechselbeziehung befindliche Schwierigkeiten, die bei keiner andersartigen Erkrankung auftreten, und das macht den geistigen Aspekt des Daseins als Lepra-Opfer entscheidender als die körperliche Verfassung. Das erste Problem betrifft das Verhältnis zu den Mitmenschen. Anders als heute die Leukämie oder im vorigen Jahrhundert die Tuberkulose ist die Lepra keine Krankheit – und war's nie – von sozusagen poetischer Natur, kein Leiden, das sich romantisieren läßt. Ganz im Gegenteil. Selbst in Gesellschaften, in denen man die Siechen weniger ablehnt als in unserer westlichen Zivilisation, ist man dem
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