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Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert

Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert

Titel: Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
Autoren: Loretta Napoleoni
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Lateinamerika bewirkte: Hier rebellieren die Ausgeschlossenen, die modernen Sklaven, die Leibeigenen der Globalisierung. Doch der Protest in Europa kann sehr viel gefährlicher werden als die Revolte in Tunesien und Ägypten, gefährlicher sogar als der Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen bzw. der mögliche Sturz von Assad in Syrien. Viel gefährlicher als der Bankrott Argentiniens. Denn das, wogegen man auf den Straßen Europas protestiert, ist keine brutale Diktatur, sondern vielmehr unsere vielgeliebte Demokratie, die – wenn man genauer hinschaut – nur noch eine Maske ist, die in Fetzen hängt. Aus diesem Grund wird man alles tun, um die Epidemie einzudämmen.
    Im Augenblick stehen wir noch ganz am Anfang. Die Mobilisierung der Massen zielt nicht darauf ab, ein Regierungssystem zu beseitigen, das – um mit Churchill zu sprechen – immer noch »die schlechteste aller Regierungsformen ist, von allen anderen mal abgesehen«. Der Protest wendet sich gegen jene, die dieses System bislang gelenkt haben. Und es ist kein Zufall, wenn die neuen Formen des Protests Rückgriff nehmen auf die Urform der Kommunikation des Bürgers mit seinen Mitbürgern. Die Studenten, die in Rom den Piazzale Aldo Moro besetzt hatten, verweisen auf die agorá , den Marktplatz in der altgriechischen Stadt, wo die Demokratie ihren Anfang nahm. Auf der Plaça de Catalunya im Herzen Barcelonas versammeln sich die Demonstranten zu einem öffentlichen Bürgerforum, um »Staat zu machen«, weil der existierende Staat nicht mehr funktioniert.
    Eines ist klar: Unser Vorbild kann nicht die klassische partizipatorische Demokratie sein. Dazu sind wir einfach zu viele. Doch im Augenblick ist dies das einzige Instrument, das uns zur Verfügung steht, um das Hemmnis »politische Klasse« zu überwinden, ohne zum Gewehr zu greifen. Das einzige, mit dessen Hilfe wir die Welt daran erinnern können, dass Volk und Staat nicht zwei getrennte Elemente sind. In Israel hat die Regierung zu einem neuen Mittel gegriffen: Sie hat den Dialog mit den empörten Bürgern eröffnet, indem sie eine Kommission einrichtete, in der neben Vertretern aller Parteien und Staatsorgane auch Vertreter der Demonstranten zu Wort kommen.
    In den letzten zwanzig Jahren hat die Globalisierungselite, fast ohne dass wir es bemerkt hätten, die Demokratie als Geisel genommen, sodass diese Regierungsform heute sie repräsentiert und nicht uns. Nun ist die Zeit gekommen, dass wir uns das zurückholen, was uns gehört. Zumindest ertönt der Ruf danach auf den Straßen und Plätzen Europas. In allen Ländern ähneln sich die Forderungen: Abschaffung der Privilegien der politischen Klasse, Rechenschaftspflicht, Transparenz. Anders gesagt: Wer unterschlägt und Schmiergeld zahlt, wird angeklagt. Und wer rechtskräftig verurteilt wurde, kann kein öffentliches Amt mehr übernehmen. Vor allem aber: die Aufgabe des neoliberalistischen Entwicklungsmodells, das den Staatsstreich der politischen Klasse erst möglich machte, und Rückkehr der Ausgeschlossenen in die Politik. All diese Forderungen wurden stets gewaltfrei vorgetragen. Utopisch? Nun, wenn jemand uns im Herbst 2010 gefragt hätte, ob wir glauben, dass in den Städten der arabischen Welt das Volk gegen seine Herrscher aufsteht und eine friedliche Revolution anzettelt, was hätten wir damals geantwortet?
    Denn noch etwas macht diese Revolution zu einer Besonderheit: die Tatsache, dass sie gewaltfrei verläuft. Wie wir noch sehen werden, bildet England die einzige Ausnahme. Dort hat die Sparpolitik von Premierminister David Cameron die Spannungen zwischen den Rassen verstärkt, die – zusammen mit den enormen sozialen Unterschieden – seit gut zwanzig Jahren das Land prägen. Doch sogar dort haben die Bilder von der Zerstörung die Menschen mobilisiert, die mit Besen und Kehrschaufel auszogen, um ihr Viertel wieder in Ordnung zu bringen. Die Botschaft ist dieselbe: Erobern wir uns den gesellschaftlichen Raum zurück.
    Bestürzt sahen wir die Bilder von den Plünderungen in den englischen Städten, von den Polizeieinsätzen, dem Eingreifen der Anti-Terror-Kräfte oder privater arabischer Milizen, die sich auf Menschen stürzten, welche den Dialog mit ihnen suchten. Doch wir schreiben nicht mehr 1956, und wir sind nicht in Ungarn. Wir sind nicht 1968 in Prag oder 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Dort und damals glaubten die Verantwortlichen, das Erinnerungsvermögen der Menschen einfach auslöschen zu können wie Kreideschrift
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