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Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert

Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert

Titel: Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
Autoren: Loretta Napoleoni
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Kriminalisierung der Einwanderung. Gegen Ende 2010 wälzt das Feuer sich auf das Mittelmeergebiet zu und setzt alle Anrainerstaaten in Brand.
    Dass der Unmut der Jugend einen Höhepunkt erreicht hat, merkten wir erst, als im Frühjahr 2011 immer mehr junge Leute auf die Straße gingen, zuerst in den Städten Nordafrikas, dann auch in den Zentren Europas. Doch die jungen Leute, die sich gegen Arbeitslosigkeit und fehlende Zukunftsperspektiven auflehnen, sind sozusagen nur der Resonanzkörper einer Zivilgesellschaft, die allmählich verarmt, die von betrügerischen und heuchlerischen Politikern gedemütigt wird, die aus den Zirkeln der Entscheidungsträger ausgeschlossen ist. Dieser Befund trifft auf alle Gesellschaften rund um das Mittelmeer zu, ob sie nun an seiner Süd- oder seiner Nordküste liegen. Und so gehen in Griechenland, Portugal, Spanien, Frankreich und Italien nicht nur die Söhne und Töchter auf die Straße. Mit ihnen gehen ihre Eltern und Großeltern. Das Volk.
    »Wir wollen unsere Würde zurück«, skandiert man in den Straßen der arabischen Welt. »Empört euch!«, ruft man in Europa. »Soziale Gerechtigkeit für alle!«, fordert man in Israel. Überall sind Arbeitslosigkeit und hohe Lebenshaltungskosten nur die Spitze des Eisbergs. Sogar die Euro-Krise, so bedeutsam sie auch sein mag, liefert dem Protest nur den Rahmen. Denn was die Wirtschaft eigentlich in die Knie zwingt, ist die Misswirtschaft auf politischer Ebene. Mittlerweile zeigt sich deutlich, dass die Demokratie in vielen Staaten nur eine Farce ist, dass einige europäische Demokratien sämtliche Symptome eines untergehenden Kaiserreichs zeigen, in dem Finanzbarone und Politiker um ihre Privilegien kämpfen wie mittelalterliche Feudalherren.
    Schlechte Regierungsführung und Misswirtschaft, die im gesamten Mittelmeerraum an der Tagesordnung sind, haben die Anrainerstaaten zum Überträger gemacht – und das Mittelmeer selbst zur Grabstätte für all jene Unglücklichen, die Nordafrika verlassen, um ihr Heil in Europa zu suchen. Nun, da sich in Ägypten, Libyen, Syrien, Tunesien, Jemen und Bahrain die Menge gegen die Diktatoren erhebt, die einst als »Freunde des Westens« gehandelt wurden, protestieren die Menschen in Europa gegen Demokratien, die von einigen wenigen Interessengruppen gesteuert werden. Und sie tun dies auf ganz unterschiedliche Art und Weise: In Italien werden die Kommunalwahlen im Mai 2011 und die Volksabstimmung vom Juni desselben Jahres zum Plebiszit gegen Silvio Berlusconi, seine irrwitzige Regierungsführung und die herrschende Klasse, die ihm dabei sekundiert. In Spanien streichen die Indignados den Begriff »politisch« wegen seiner mittlerweile negativen Bedeutung aus dem Vokabular und weigern sich, zur Wahl zu gehen. Auch auf den Straßen wehren sich die Menschen: In Griechenland protestieren sie gegen das Parlament, das dem Land einen harten Sparkurs verordnet und dann die Polizei gegen die Demonstranten schickt. In Portugal schreit man der herrschenden Klasse ihre Verantwortung für den wirtschaftlichen Ruin des Landes entgegen. In Paris, auf der Place de la Bastille, protestiert man gegen das »Sarkozy-Regime«, dessen Tage im Mai 2012 gezählt sind. Ende Juli 2011 schließlich marschieren die Empörten Europas nach Brüssel. Im August kommt es in England zu Plünderungen. Entsetzt sieht die Welt zu, wie es in den Straßen jener Stadt, die in weniger als einem Jahr die Olympischen Spiele beherbergen soll, zu Ausschreitungen kommt. Die globale Zivilgesellschaft probt den Aufstand, weil sie sich allmählich der politischen Realität bewusst wird. Und weil sie sich, koste es, was es wolle, den Staat zurückerobern will.
    Hatten wir es bis vor kurzem noch mit einer postindustriellen Gesellschaft zu tun, stehen wir nun am Anbeginn der postimperialen Gesellschaft. Und es sind vor allem die Mittelmeerländer, die die Tore in diese Ära weit aufstoßen. Doch während man in Nordafrika darum kämpfte, die Diktatoren, die mit westlicher Billigung ihr Volk unterdrückten, zu stürzen und Demokratien zu bilden, geht es in Europa um die Erneuerung der demokratischen Institutionen, die zu Machtinstrumenten in den Händen einer neuen Oligarchie verkommen sind.
    Unterschiedliche Ziele also, aber gleiche Beweggründe. Was sich im Mittelmeerraum abspielt, ist nicht neu, denn es ähnelt der Geschichte Argentiniens, wo vor über zehn Jahren ein ganzes Volk bankrottging, was als Konsequenz einen politischen Umschwung in
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