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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin
Autoren: Boris Akunin
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lautlos gegen das Tischbein. »Aber ich verspreche Ihnen: Schon morgen werde ich die nötigen Informationen zusammen haben. Kommen Sie zu mir. . . Sagen wir, um vier. Nein, besser um fünf, das ist sicherer. Bringen Sie mir alle Papiere mit. Die Briefe an die Wohltätigkeitsorganisationen schreibe ich selber – Englisch ist meine Muttersprache. Lassen Sie nicht den Kopf hängen! Alles, was wir machen können, machen wir.«
    Doch wider Erwarten geriet der Kunde nicht in einen Freudentaumel und brach nicht in Dankesbezeugungen aus. In dem hageren, glupschäugigen Gesicht zeichnete sich äußerste Verwunderung ab, die aber im nächsten Augenblick schon von Erleichterung abgelöst wurde.
    »Sie haben vergessen, dass dieser Mann kein Geld hat!«, rief er triumphierend aus. »Er ist absolut nicht kreditwürdig! Er wird Sie nicht bezahlen können. Ich habe doch gesagt, all seine Ersparnisse wurden von den Scharlatanen und Betrügern aufgefressen!«
    »Das habe ich verstanden. Aber ich will trotzdem versuchen, Ihrer Frau zu helfen.«
    Diese Worte verdrossen den Anonymen irgendwie. Er blinzelte müde und rieb sich die Augenlider. Dann sagte er ausdruckslos:
    »Wie kommen Sie denn darauf, dass es um mich geht? Ich habe einfach so aus dem Stegreif eine schwierige Situation geschildert . . .«
    Da verlor Nicki zum zweiten Mal die Fassung und zwar sehr viel heftiger als beim ersten Mal.
    Er sprang so abrupt auf, dass der Sessel wegrutschte, und brüllte den angeblichen Kusnezow auf die widerlichste und mieseste Art an. Zwar enthielt seine Tirade keine Beschuldigungen, aber das Wort »Gewissen« kam gleich drei Mal vor und die Wendung »Woher nehmen Sie eigentlich das Recht?« sogar vier Mal. Weiß der Teufel, was heute mit dem russischen Engländer los war, er erkannte sich selbst nicht wieder. Offenbar waren ihm angesichts der nicht vorhandenen Rasierklinge die Nerven durchgegangen.
    Aufmerksam, aber ohne irgendwelche Anzeichen von Reue oder Ärger hörte sich der unsympathische Typ Nickis Gardinenpredigt an. Aus seinen Augen sprach eher eine freudige Verwunderung.
    Das Gepolter und Geschrei hatten Valja ins Arbeitszimmer stürzen lassen. Die vampartige Frau, die seit dem Morgen arbeitete und erst vor einer halben Stunde den Chef mit Tee bewirtet hatte, hatte sich inzwischen in einen schlanken, kahl rasierten Jüngling verwandelt. Die Schminke und die lila Perücke waren verschwunden, an die Stelle der Pumps auf einem zehn Zentimeter hohen Absatz waren schwere Halbschuhe getreten, die Bluse war von einem asymmetrischen, grob gestrickten Pullover abgelöst worden. Diese Metamorphose bedeutete, dass Fandorins Assistent, launisch und unberechenbar wie er nun einmal war, sich in der Farbe des heutigen Tages geirrt hatte und spontan von Rosa auf Blau umgestiegen war.
    Valja Glen war als ein Wesen männlichen Geschlechts auf die Welt gekommen, aber während es aufwuchs und erwachsen wurde, verlor die geschlechtliche Zugehörigkeit des ungewöhnlichen Jünglings ihre Eindeutigkeit. Manchmal schien Valja, er sei ein Mann (solche Tage hießen bei ihm blaue Tage), manchmal aber schien ihm beziehungsweise ihr, sie sei eine Frau (diese Stimmung bezeichnete sie als rosa). Fandorin hatte anfangs Angst vor der Intersexualität seines Gehilfen und vertat sich ständig mit den Pronomen. Was denn nun: Hatte sie dem Kunden schon wieder den Kopf verdreht oder hatte er der Kundin schon wieder den Kopf verdreht. Aber schließlich hatte er sich daran gewöhnt. An rosa Tagen redete er von ihr, an blauen von ihm. So schwer war es gar nicht, denn Valja sprach sogar in zwei verschiedenen Stimmlagen, mal im Tenor, mal im Contralto.
    Ins Arbeitszimmer kam also ein Androgyner gelaufen, der inzwischen den heutigen Tag mit einem himmelblauen Anstrich versehen hatte, und stürzte sich angriffslustig auf den Besucher.
    »Qu’est-ce qu‘ il y a, chef? Ich geb diesem Monster jetzt eins mit der Entfernungstaste und zack in den Basket!«
    Die jeweilige geschlechtliche Identität wirkte sich absolut nicht auf Valjas Wortschatz aus – er brachte es fertig, sich in beiderlei Gestalt so originell auszudrücken, dass man ihn ohne Vorbereitung und ohne Sprachkenntnisse nicht verstand. Schuld daran war seine chaotische Ausbildung: Glen war in ein Schweizer Pensionat, in eine amerikanische Highschool und in eine geschlossene katholische Lehranstalt bei Paris gegangen, aber überall so kurz gewesen, dass er von den Landessprachen nur ein bisschen aufgeschnappt hatte.
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