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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss
Autoren: Marguerite Yourcenar
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Schicksal hätte unterrichten können. Statt dessen hatte er ein Exemplar des Rilkeschen Stundenbuches bei sich, das auch Konrad geliebt hatte. Grigori war in jenem Lande und in jener Zeit vielleicht der einzige Mensch, mit dem ich mich eine Viertelstunde lang angenehm hätte unterhalten können. Man mußte anerkennen, daß diese jüdische Besessenheit, sich über das Niveau des väterlichen Trödlerladens zu erheben, bei Grigori edle Früchte getragen hatte: selbstloses Sicheinsetzen für ein hohes Ziel, Verständnis für Poesie, Freundschaft für ein leidenschaftliches junges Mädchen und zum Schluß das etwas falsch angewandte Vorrecht eines schönen Todes.
    Eine Handvoll Soldaten hielt sich noch auf dem Heuboden einer Scheune. Das langgestreckte, auf Pfählen ruhende Gebäude schwankte unter dem Andrang der Flut und stürzte schließlich ein, mit ein paar Leuten, die sich, an einen riesigen Balken geklammert, über Wasser hielten. Sie hatten die Wahl zwischen Ertrinken und Erschossenwerden und machten sich keine falschen Hoffnungen mehr. Auf beiden Seiten wurden längst keine Gefangenen mehr gemacht, und wie hätte man in dieser allgemeinen Verwüstung Gefangene mitschleppen sollen? Einer nach dem anderen stiegen sechs oder sieben erschöpfte Männer mit taumelnden Schritten die steile Leiter vom Heuboden zu dem Schuppen voll verschimmelter Flachsballen hinunter, der früher als Speicher gedient hatte. Der erste, ein junger blonder Riese, der an der Hüfte verwundet worden war, strauchelte, verfehlte eine Sprosse und fiel auf den Boden, wo irgend jemand ihn erledigte. Plötzlich erkannte ich auf den obersten Stufen einen Haarschopf – ebenso wirr und leuchtend wie jener andere Haarschopf, den ich vor drei Wochen unter der Erde hatte verschwinden sehen. Michel, der alte Gärtner, der mir als eine Art Ordonnanz gefolgt war, hob seinen durch all das Geschehene ermüdeten und abgestumpften Kopf und rief erschrocken:
    »Das gnädige Fräulein …«
    Es war in der Tat Sophie, die mir von weitem gleichgültig zunickte, wie eine Frau, die jemanden wiedererkennt, aber keine Unterhaltung mit ihm wünscht. Gekleidet und gestiefelt wie alle anderen, sah sie aus wie ein blutjunger Soldat. Mit langen federnden Schritten ging sie durch die zögernde kleine Gruppe hindurch, die unten im staubigen Dämmerlicht wartete, trat zu dem jungen blonden, am Fuß der Leiter ausgestreckten Riesen, warf den gleichen harten zärtlichen Blick auf ihn, mit dem sie an jenem Novemberabend das Hündchen Texas bedacht hatte, und kniete nieder, um dem Toten die Augen zu schließen. Als sie sich wieder erhob, hatte ihr Gesicht wieder jenen leeren, gleichmütig ruhigen Ausdruck angenommen, der dem von frisch gepflügten Äckern unterm Herbsthimmel gleicht. Die Gefangenen erhielten Befehl, beim Transport der Munitions- und Lebensmittelvorräte nach Kovo mitzuhelfen. Sophie ging als letzte, mit leeren Händen. Sie sah frech aus, wie ein Soldat, der sich vor einer Dienstarbeit hat drücken können, und pfiff den Tipperary-Marsch.

    Chopin und ich, die dem Zug in einiger Entfernung folgten, sahen sicher so entgeistert aus wie Verwandte bei einem Begräbnis. Wir schwiegen beide. Jeder wünschte in diesem Augenblick das junge Mädchen zu retten und argwöhnte, daß der andere sich dieser Absicht widersetzen würde. Bei Chopin allerdings ging diese Anwandlung von Nachsicht rasch vorüber; denn wenige Stunden später war er genauso zu äußerster Strenge entschlossen, wie es auch Konrad an seiner Stelle gewesen wäre. Um Zeit zu gewinnen, traf ich Anstalten, die Gefangenen zu verhören. Man sperrte sie in einen Viehwagen, der auf dem Gleis vergessen worden war, und brachte sie mir dann einzeln ins Büro des Bahnhofsvorstehers. Der erste, ein kleinrussischer Bauer, war so erschöpft von den Strapazen, so resigniert und so abgestumpft, daß er von den Fragen, die ich der Form halber an ihn stellte, nicht ein Wort begriff. Er war dreißig Jahre älter als ich; und nie wieder habe ich mich so jung gefühlt wie damals in Gegenwart dieses Bauern, der mein Vater hätte sein können. Ich schickte ihn wortlos wieder weg. Darauf erschien Sophie zwischen zwei Soldaten; es hätten ebensogut zwei Lakaien sein können, die sie auf einer eleganten Soirée in den Salon geleiteten. Einen Augenblick lang las ich auf ihrem Gesicht jene scheinbare Angst, die nichts anderes ist als die Furcht, man könne es an Mut fehlen lassen. Sie trat an den weißen Holztisch, an dem ich
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