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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss
Autoren: Marguerite Yourcenar
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saß, und sagte sehr rasch:
      »Erwarten Sie keine Auskünfte von mir, Erich, ich werde nichts sagen und weiß auch nichts.«
      »Ich habe Sie nicht wegen irgendwelcher Auskünfte kommen lassen«, sagte ich, indem ich ihr einen Stuhl anwies. Sie zögerte erst, setzte sich aber dann.
    »Weshalb sonst?«
      »Um ein paar Dinge klarzustellen. Sie wissen, daß Grigori Loew tot ist?«
    Sie neigte feierlich den Kopf, ohne Kummer. In Kratovice hatte sie genau das gleiche getan, als man ihr mitteilte, daß zwei von unseren Kameraden gefallen seien, die ihr gleichgültig waren und die sie doch gern hatte.
      »Ich habe im letzten Monat seine Mutter in Lilienkron gesehen. Sie behauptet, Sie hätten Grigori geheiratet.«
      »Moi? Quelle idée!« sagte sie auf französisch, und diese drei Worte genügten, um mir das ehemalige Kratovice zurückzurufen.
    »Ihr habt aber doch zusammen geschlafen?«
      »Quelle idée!« wiederholte sie. »Sie haben sich ja auch eingeredet, ich wäre mit Volkmar verlobt. Sie wissen genau, daß ich Ihnen immer alles gesagt habe«, meinte sie mit der ruhigen Einfachheit eines Kindes und fügte in einem leicht schulmeisterlichen Ton hinzu:
    »Grigori war ein Ehrenmann.«
      »Ich fange an, es zu glauben«, sagte ich. »Aber jener Tote, dem Sie die Augen zugedrückt haben?«
      »Ja, Erich«, sagte sie. »Wir sind doch bessere Freunde geblieben, als ich gedacht hätte …, da Sie es schon erraten haben.«
      Sie faltete nachdenklich die Hände; ihr Blick nahm wieder jenen starren und leeren Ausdruck an, der den Kurzsichtigen eigen ist, aber auch denen, die ihren Gedanken oder einer Erinnerung nachgehen.
      »Er war sehr gut zu mir, ich weiß nicht, was ich ohne ihn angefangen hätte«, sagte sie im Ton einer auswendig gelernten Lektion.
    »War es schwer für Sie da drüben?«
    »Nein, es ist mir gut gegangen.«
    Ich erinnerte mich, daß es auch mir in jenem unseligen Frühling gut gegangen war. Sie strahlte jene heitere Gelassenheit aus, die man einem Menschen, der das Glück in seiner einfachsten und zuverlässigsten Form gekannt hat, nie ganz wieder wegnehmen kann. Hatte sie das Glück in der Nähe jenes Mannes gefunden, oder gab die Nähe des Todes und die Gewöhnung an die Gefahr ihr diese Ruhe? Wie dem auch sei: mich liebte sie in jenem Augenblick nicht mehr und kümmerte sich auch nicht mehr um den Eindruck, den sie auf mich machte.
      »Und jetzt?« sagte ich und zeigte auf eine offene Zigarettendose, die auf dem Tisch stand. Sie lehnte mit einer kurzen Handbewegung ab.
    »Jetzt?« sagte sie mit einem Ton der Überraschung.
    »Haben Sie Verwandte in Polen?«
      »Oh«, sagte sie, »Sie wollen mich nach Polen zurückbringen. Ist das auch Konrads Vorstellung?«
    »Konrad ist tot«, sagte ich so einfach wie möglich.
      »Das tut mir leid, Erich«, meinte sie leise, als ginge dieser Verlust nur mich an.
    »Möchten Sie wirklich so gerne sterben?«
      Aufrichtige Antworten sind niemals glatt und niemals rasch. Sie überlegte und zog die Brauen zusammen, wodurch ihre Stirn jene Falten bekam, die sich sonst erst in zwanzig Jahren gezeigt haben würden. Ich sah, wie sie insgeheim jenen dunklen Erwägungen nachging, die Lazarus sicher zu spät und erst nach seiner Auferweckung anstellte. Ich merkte, wie in ihr die Furcht mit der Müdigkeit, die Verzweiflung mit der Tapferkeit und das Gefühl, genug gelebt zu haben, mit dem Verlangen kämpfte, noch ein paar Mahlzeiten zu essen, ein paar Nächte zu schlafen, um morgens die Sonne aufgehen zu sehen.
      Meist kommen dann wohl noch zwei, drei Dutzend glückliche oder unglückliche Erinnerungen hinzu, die uns, je nach unserem Temperament, entweder zögern lassen oder uns dem Tod in die Arme treiben.
    Schließlich sagte sie, und sicherlich hätte sie keine treffendere Antwort geben können.
    »Was werden Sie mit den anderen machen?«
      Ich antwortete nicht, und mein Schweigen sagte ihr alles. Sie erhob sich mit dem Ausdruck eines Menschen, der eine Sache nicht zu Ende gebracht hat, an der ihm sowieso nichts gelegen hat.
      »Sie wissen«, sagte ich und erhob mich ebenfalls, »daß ich, was Sie betrifft, mein möglichstes tun werde. Mehr kann ich nicht versprechen.«
    »Soviel erwarte ich gar nicht von Ihnen«, sagte sie.
      Sie drehte sich zum Fenster, schrieb irgend etwas mit dem Finger auf die beschlagene Scheibe und löschte es gleich wieder aus.
    »Sie möchten mir wohl nichts schuldig sein?«
      »Es ist nicht einmal
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