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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss
Autoren: Marguerite Yourcenar
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Sophie mir vermittelt hatte, nach einiger Zeit in der nichtssagenden Banalität der Liebe. Mir blieb nur eines jener verblichenen »Andenken«, über die man die Achseln zuckt, wenn man sie auf dem Boden seines Gedächtnisses findet, wie über eine Photographie, die unscharf oder während eines vergessenen Spaziergangs mit Gegenlicht aufgenommen worden ist. Später haben sich dann die Züge ihres Bildes wie in einem Säurebad deutlicher entwickelt. Ich war erschöpft; bald darauf brachte ich, nach Deutschland zurückgekehrt, einen ganzen Monat mit Schlafen zu. Das Ende dieser Geschichte vollzieht sich für mich in einer Atmosphäre, die weder ein Traum noch ein Alpdruck ist, sondern ein einziger dumpf lastender Schlaf. Ich schlief im Stehen wie ein müdes Droschkenpferd. Ich denke nicht im geringsten daran, meine Verantwortung zu verkleinern: was ich Sophie Böses hatte antun können, war längst getan, und ich hätte beim besten Willen nichts Wesentliches hinzutun können. Es steht für mich fest, daß ich in dem ganzen letzten Akt nur die Rolle eines Schlafwandlers gespielt habe. Sie werden mir sagen, daß es auch in den romantischen Melodramen solche stummen und sensationellen Henkerrollen gegeben hat. Ich habe aber wirklich den Eindruck, daß Sophie von einem gewissen Augenblick an ihr Schicksal selber in die Hand nahm. Ich weiß auch, daß ich mich hierin nicht irre, denn ich bin manchmal gemein genug gewesen, darunter zu leiden. Da wir nichts anderes von ihr besitzen, können wir ihr auch ebensogut die Verantwortung für ihren Tod belassen.
    Das Schicksal knüpfte seinen Knoten in dem kleinen Dorf Kovo wenige Tage nach dem Eintreffen der polnischen Truppen. Es lag an einer Stelle, wo zwei Wasserläufe mit unaussprechbarem Namen zusammenfließen. Der Fluß war nach dem Frühjahrshochwasser über die Ufer getreten und hatte das Land in eine Schlamminsel verwandelt, auf der wir wenigstens gegen Angriffe aus dem Norden einigermaßen geschützt waren. Fast sämtliche Truppen des Feindes waren nach Westen abberufen worden, um die polnische Offensive aufzuhalten. Im Vergleich zu dieser Gegend war die Umgebung von Kratovice ein blühendes Land. Wir besetzten mühelos das zu drei Vierteln durch den Hunger und die letzten Erschießungen entvölkerte Dorf sowie den kleinen Bahnhof, der seit Kriegsende nicht mehr benutzt wurde und auf dessen verrosteten Gleisen einige mit Holz beladene Waggons verfaulten. Die Überbleibsel eines an der polnischen Front hart mitgenommenen Bolschewikenregiments hatte sich in der Spinnerei einquartiert, die ein Schweizer Industrieller vor dem Kriege in Kovo errichtet hatte. Obwohl sie fast ganz ohne Munition und Lebensmittel waren, konnten wir später doch dank dieser kläglichen Reserven so lange durchhalten, bis die polnische Division kam, die uns rettete. Die Spinnerei »Warner« lag mitten im Überschwemmungsgebiet. Ich sehe noch die Reihe jener sehr niedrigen Schuppen unter dem rauchigen Himmel vor mir, an denen bereits die grauen Wellen des Flusses leckten, dessen weiteres Steigen nach den letzten Regengüssen zu einer Katastrophe zu werden drohte. Mehrere von unseren Leuten kamen um in dem Schlamm, in dem man bis zu den Hüften versank, wie Entenjäger in einem Sumpfgelände. Der zähe Widerstand der Roten hörte erst auf, als das Wasser aufs neue stieg und einen Teil der Gebäude davontrug, die schon seit fünf Jahren unbewohnt und allen Unbillen der Witterung ausgesetzt waren. Unsere Leute griffen mit solch grimmiger Erbitterung an, als ob die Eroberung dieser wenigen Schuppen ihnen hülfe, eine alte Rechnung mit dem Feind zu begleichen.
    Grigori Loew war einer der ersten Toten, auf die ich in dem Korridor der Fabrik stieß. Er hatte auch im Tode sein schüchternes Studentengesicht und den Ausdruck des beflissenen Gehilfen behalten, was übrigens jener Würde, die fast alle Toten haben, keinen Abbruch tat. Es war mir bestimmt, früher oder später meine beiden einzigen persönlichen Feinde in Positionen wiederzusehen, die unendlich gesicherter waren als meine eigene, was jeden Gedanken an Rache unmöglich machte. Ich bin Volkmar auf meiner Reise durch Südamerika wiederbegegnet. Er vertrat sein Land in Caracas, hatte eine glänzende Karriere vor sich und hatte, wie um jeglichen Racheversuch noch unmöglicher zu machen, alles vergessen. Grigori Loew war noch unnahbarer als früher. Ich ließ seine Taschen durchsuchen, ohne ein einziges Papier zu finden, das mich über Sophies
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