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Der Falsche Krieg

Titel: Der Falsche Krieg
Autoren: Olivier Roy
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Theo Van Gogh »sprengte« den holländischen Multikulturalismus; die Gruppe selbst war eindeutig »post-kulturalistisch«.
     
    Kommen wir noch einmal auf die Konvertiten zurück, die bereits in meinem Buch Der Islam und der Westen erwähnt wurden: die Franzosen Christophe Caze, Jean-Marc Grandvisir, Jérôme Courtailler, Lionel Dumont und den Deutschen Christian Ganczarski (beteiligt beim Anschlag von Dscherba 2002); hinzuzufügen ist der Franzose Willie Brigitte (er wurde 2007 in Paris verurteilt). Viele dieser Konvertiten stammen von den - französischen oder den britischen - Antillen, für die die Bewegung in doppeltem Sinne attraktiv ist: Sie finden in den islamistischen Kreisen eine Brüderlichkeit, die frei von Rassismus ist, und kämpfen gleichzeitig gegen die ehemaligen Kolonialmächte. Insofern sind wir Zeuge einer Verknüpfung von traditionellem Antiimperialismus und Islamismus. Und nicht zuletzt gelangen die Konvertiten bei Al Qaida in verantwortliche Positionen, die sie anderswo nie erreicht hätten.

    Bei den europäischen Mitgliedern von Al Qaida lassen sich insgesamt zwei Arten von Konvertiten ausmachen: einmal diejenigen, die ihren eigenen Weg verfolgt haben und in einer Moschee konvertiert sind, und dann jene, die ihren »Genossen« folgen, was sich oft im Rahmen von Kleinkriminalität vollzieht.
    Bemerkenswert ist der Fall der Belgierin Muriel Degauque, die 2005 zusammen mit ihrem Ehemann im Irak einen Selbstmordanschlag verübte, denn sie steht für eine aktuelle Entwicklung: Al Qaida, bisher eine eher frauenfeindliche Gruppierung, nimmt seit einiger Zeit auch weibliche Mitglieder auf - was zeigt, dass die Konvertiten ihre eigene Form von Dekulturation, von kultureller Enteignung, mitbringen. Unter den im Westen operierenden Al-Qaida-Gefolgsleuten befinden sich mehr konvertierte Mitglieder als Personen, die aus dem Mittleren Osten im engeren Sinn (ohne den Maghreb) stammen.
    An der großen Zahl der Konvertiten, durch die sich Al Qaida von anderen islamischen Organisationen grundlegend unterscheidet, lassen sich mehrere Eigenheiten der Organisation besonders gut nachvollziehen:
    • Al Qaida ist eine entterritorialisierte Organisation, die in keiner Weise eine traditionelle Kultur des Mittleren Ostens widerspiegelt oder eine Reaktion auf den israelisch-palästinensischen Konflikt darstellt.
    • Al Qaida zieht Menschen an, die sich dreißig Jahre früher wahrscheinlich extrem linken (oder extrem rechten) Gruppen angeschlossen hätten.
    • Es gibt häufig einen Zusammenhang zwischen Kleinkriminalität (Drogendelikten) und einer fortschreitenden Radikalisierung; so hatten auch die linksextremen Bewegungen einen Hang zur Kriminalität.
    Al Qaida ist keine leninistische Organisation, sie ist weder zentralisiert noch hierarchisch. Vielmehr agiert sie in Netzwerken. Die Netzwerke sind einerseits international ausgerichtet, andererseits beziehen sie ihre Kraft aus den engen persönlichen Beziehungen der Mitglieder untereinander. Die Organisation verbindet die Globalisierung mit dem Korpsgeist einer kleinen homogenen Gruppe von Menschen, die sich gut kennen. Diese Solidarität internationalistischer Veteranen, die dieselben Lager durchlaufen und in denselben Schlachten gekämpft haben, macht die Flexibilität und Zuverlässigkeit der Netze aus.
    Einer fundierten Analyse von Marc Sageman 2 zufolge steht der Korpsgeist an beiden Enden der Initiationsreise in den afghanischen Dschihad beziehungsweise einem anderen Einsatz im Dienste der Religion: Man radikalisiert sich inmitten der kleinen Gruppe von »Genossen« (in einem Studentenwohnheim, einem Stadtviertel, einer Moschee oder am Arbeitsplatz wie im Falle der britischen Ärzte 2007) und fasst den Beschluss, aufzubrechen. In Afghanistan oder in Bosnien oder Tschetschenien trifft man auf weitere »Brüder« - Malaysier, Philippiner, Pakistaner -, und manchmal begegnet man ihnen später in ihrem eigenen Land wieder.
Die Mitglieder eines Netzes verstoßen oft eklatant gegen alle Regeln der Konspiration. Sie teilen Wohnungen und Bankkonten, treten gegenseitig als Trauzeugen auf, unterschreiben wechselseitig Testamente und so weiter. Die Abschottung kommt durch die Gruppe, nicht durch konspiratives Verhalten.
    Die Führung, die Zellen an der Basis, die transnationalen Netze und die Kommandokette von Al Qaida - alles ist in persönlichen Beziehungen verankert, die teils in Afghanistan entstanden, teils in einem lokalen Umfeld gewachsen sind und die sich
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