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Der falsche Freund

Titel: Der falsche Freund
Autoren: Nicci French
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Don auf die Wange, aber nur ganz sanft, damit er nicht aufwachte. Dann blickte ich noch einen Moment auf ihn hinunter. Ja. Er war der Richtige.
    Ich nahm den Wagen und lenkte ihn stadtauswärts. Die Straßen waren fast leer. Ich fuhr über die Blackfriars Bridge, von wo ich die Kuppel von Saint Paul’s im eisigen Licht leuchten sah, dann weiter durch New Cross, Blackheath und auf die A 2. Kurz nach Gravesend legte ich einen kurzen Zwischenstopp ein, um zu tanken. Ich war schon im Begriff, dem Mann an der Kasse meine Kreditkarte zu geben, als ich es mir anders überlegte und bar bezahlte. An der Tankstelle nahm ich mir auch gleich noch einen Becher Kaffee mit, den ich im Wagen trank, bevor ich weiterfuhr. Ich war inzwischen ganz ruhig. Im strahlenden Licht dieses schönen Wintertags sah ich die Dinge plötzlich mit neuer Klarheit und Schärfe.
    Ich bog auf die M 2 ein und nahm ein paar Kilometer später die Ausfahrt Richtung Sheerness. Ich konnte bereits die Medway-Mündung sehen, die Sumpfebene und die Grüppchen schäbiger Häuser, zwischen denen sich ein paar kahle Bäume im Wind bogen. Über alldem spannte sich ein weiter, wolkenloser Himmel. Bald setzte ich auf die Insel Sheppey über. Ich hielt an und warf einen Blick auf meine Landkarte, ehe ich weiterfuhr.
    Am Kreisverkehr rechts, nach ein paar Meilen wieder rechts, eine holprige kleinere Straße entlang, dann links auf die Kirche zu, deren Turm schon kilometerweit zu sehen war. An der Kirche parkte ich und warf einen Blick auf die Uhr. Zehn. Ich musste noch drei Kilometer gehen und hatte dafür eine knappe Stunde Zeit.
    Als ich die Wagentür öffnete, schlug mir eisige Kälte entgegen, und ich konnte die wehmütig klingenden Schreie der Seevögel hören. Ich zog meine warme Jacke an, vermummte mich mit Schal und Wollmütze und schlüpfte in Handschuhe.
    Trotzdem hatte ich das Gefühl, als würde mir der scharfe Wind die Haut von den Wangen reißen. Ich marschierte los. Wäre Don jetzt bei mir gewesen, hätte er mir die Namen der Vögel nennen können, die über mir in der Luft kreisten oder im Sturzflug aufs Wasser herabschossen. Ich rieb meine Hände aneinander, um die Durchblutung anzuregen. Außer mir war kein Mensch zu sehen. Ein paar Schafe knabberten an Grasbüscheln, und hin und wieder stelzte ein Vogel auf langen Beinen vorsichtig über eine Schlammfläche. Ich kehrte dem Meer den Rücken zu und marschierte auf das landeinwärts gelegene Sumpfgebiet zu.
    Nach etwa vierzig Minuten sah ich am Horizont einen Punkt auftauchen, der schnell größer wurde. Aus dem Punkt wurde eine Gestalt, die auf mich zukam. Eine Frau in einem dicken Mantel. Sie trug eine Mütze, aber ein paar Strähnen ihres blonden Haars waren entwischt und wehten über ihre bleichen Wangen. Keine von uns winkte oder verlangsamte ihre Schritte.
    Wir gingen einfach weiter aufeinander zu, bis wir nur noch ein paar Schritte voneinander entfernt waren.
    »Naomi«, sagte ich.
    »Hallo.«
    »Alles gut gegangen?«
    »Ich habe aufgepasst. Wie Sie gesagt haben.«
    Ich hatte sie seit jenen Tagen vor Gericht nicht mehr gesehen.
    Damals hatte ich mich krampfhaft bemüht, nicht zu ihr hinzuschauen. Trotzdem war ich mir ihrer Anwesenheit ständig bewusst gewesen. Einmal waren sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde begegnet, woraufhin wir beide ganz schnell wieder weggeschaut hatten, als hätten wir uns verbrannt.
    Sie hatte abgenommen und war auffallend blass. Außerdem wirkte sie älter, Jahre älter als die Frau mit dem offenen, lieben Gesicht, die ich im Crabtrees kennen gelernt hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie ihre Unschuld verloren hatte. Binnen weniger Monate waren ihr all ihre Illusionen geraubt worden. Brendan hatte ganze Arbeit geleistet.
    »Sollen wir ein Stück gehen?«, fragte ich sie. Naomi nickte.
    Wir wanderten den Pfad zurück, den sie gekommen war.
    Anfangs mussten wir hintereinander gehen, dann wurde der Weg breiter. Wir erreichten einen Campingplatz, der in seiner Verlassenheit fast gespenstisch wirkte. Von hier führte der Weg weiter zum Deich. Vor uns lag das weite Mündungsgebiet, auf der anderen Seite die flache Küste Kents. Am Rand des Wassers lagen Kieselsteine und Muschelstücke, aber auch alte Dosen, zerbrochene Flaschen, zerfetzte Plastiktüten.
    »Hatten Sie Probleme, sich unbemerkt davonzustehlen?«
    »Es gibt im Moment eigentlich niemanden, der darauf achtet, was ich tue.« Ihre leise Stimme klang ausdruckslos.
    »Und bei Ihnen?«
    »Ich habe zu
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