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Der falsche Freund

Titel: Der falsche Freund
Autoren: Nicci French
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ich es kurz an meine Wange, ehe ich es mir übers Handgelenk streifte.
    »Mein Wagen parkt nicht weit von hier«, sagte Naomi.

    Wir blieben stehen und sahen uns an.
    »Was werden Sie tun?«, fragte ich.
    Naomi blickte sich um, als befürchtete sie, im Schilf oder in dem langen, wogenden Gras könnte sich jemand verstecken und uns hören.
    »Ich habe den Blick gesehen, mit dem er mich vor Gericht gemustert hat«, antwortete sie. »Als ich gegen ihn ausgesagt habe. Er hat mich angelächelt. Sie wissen ja, wie er dann lächelt.
    In dem Moment wusste ich ganz genau, was ich tun würde. Ich gehe aus London weg. Fange irgendwo ein ganz neues Leben an.«
    »Können Sie das einfach so?«
    »Warum nicht? Ich habe keine Familie. Vielleicht war das der Grund, warum ich mich so in Brendan verliebt habe – ich dachte, wir zwei Waisen könnten uns in der bösen Welt gegenseitig beschützen.« Sie stieß ein hartes Lachen aus, das eher wie ein Bellen klang, und schüttelte dann den Kopf, als könnte sie die traurigen Gedanken auf diese Weise loswerden.
    »Eines Tages wird er wieder auf freiem Fuß sein und versuchen, mich zu finden.«
    »So schnell wird er dazu keine Gelegenheit haben.«
    »Nein, aber ein paar Jahre sind schnell um. Wie viele werden es sein? Was glauben Sie?«
    »Er hat zehn bekommen, also wird er nach fünf oder sechs wieder draußen sein – ein mit Sicherheit vorbildlicher Häftling, der alle ganz schnell für sich einnehmen wird. Aber Pryor hat gesagt, sie werden wegen Laura und Troy noch einmal ermitteln, vielleicht … na ja, wer weiß. Vielleicht bleibt er doch länger hinter Gittern.«
    »Vielleicht, vielleicht nicht.«
    »Wo werden Sie hingehen?«, fragte ich.
    Sie musterte mich einen Moment eindringlich, als versuchte sie, sich mein Gesicht einzuprägen.
    »Ins Ausland. Aber wahrscheinlich ist es besser, ich sage Ihnen nicht, wohin.«
    »Da mögen Sie vielleicht Recht haben.«
    »Ich weiß, dass ich Recht habe.«
    »Viel Glück«, sagte ich. »Ich werde an Sie denken.«
    »Was werden Sie tun?«
    »Nichts.«
    »Nichts?«
    »Mir bleiben sechs Jahre. Die werde ich genießen, Tag für Tag, und versuchen, genauso sehr zu lieben, wie ich gehasst habe. Danach – wir werden sehen.«
    »Oh«, sagte sie leise. »Dann warten Sie also noch immer?«
    Ich verzog das Gesicht. Doch sie hatte natürlich Recht. Ich wartete immer noch auf Brendan, und wenn er kam, würde ich für ihn bereit sein – wie ein Soldat, der es sogar im Schlaf spürt, wenn sein Feind sich nähert.
    »Wir werden uns niemals wiedersehen, oder?«
    »Wahrscheinlich nicht.«
    »Dann müssen wir jetzt Abschied nehmen«, sagte ich und lächelte sie zum ersten Mal an.
    Wir streckten beide gleichzeitig den Arm aus. Unsere Hände berührten sich, und wir starrten uns in die Augen. Es war, als würde man in einen Abgrund blicken.
    »Es war möglicherweise falsch, oder?«, fragte sie. »Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre, wenn ich mich vor jemandem rechtfertigen müsste, und ich weiß nicht, was ich dann sagen würde. Höchstens, dass ich es getan habe, um …«
    »Um Ihr Leben zu retten«, fiel ich ihr ins Wort.
    »Ich hoffe es«, antwortete sie. »Und Sie? Werden Sie es Ihrem
    … Ihrem Freund sagen?«

    »Don? Das sollte ich wohl. Aber ich werde es nicht tun. Ich behalte es lieber für mich.«
    Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Wir ließen beide die Hand sinken.
    »Passen Sie auf sich auf«, meinte sie.
    »Sie auch.«
    Sie drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Ich sah ihrer immer kleiner werdenden Gestalt nach, bis sie nur noch ein Punkt am Horizont war, der sich schließlich in nichts auflöste. Dann drehte ich mich ebenfalls um, stemmte mich gegen den Wind und ging, begleitet von den am Himmel kreisenden Vögeln, über das triste Marschland zurück zu der alten grauen Kirche. Dort stieg ich wieder in mein Auto, fuhr die kleine Straße entlang, bis ich auf die größere stieß, die mich zur Autobahn führte, zurück in die brodelnde Stadt, in der mein Leben auf mich wartete.
    Atemlos rannte ich die Treppe hinauf, zurück zu Don.
    »Ich bin wieder zu Hause«, sagte ich. Wie schön das klang.
    Sicherheitshalber wiederholte ich es. »Zu Hause.«
    »Du hast mir gefehlt.«
    »Jetzt bin ich ja wieder da«, antwortete ich und küsste ihn.

    Liebster Troy,
    ich glaube, ich muss dich jetzt loslassen. Ich weiß nicht, wie ich es ohne dich schaffen soll, aber ich werde es versuchen. Es tut mir Leid.

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