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Der Fall Charles Dexter Ward

Titel: Der Fall Charles Dexter Ward
Autoren: H. P. Lovecraft
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furchtbare Entdeckung gemacht, über die er nicht mit seinenskeptischen Kollegen sprechen wollte. Willett stellt tatsächlich schon allein für sich ein Geheimnis im Zusammenhang mit diesem Fall dar. Er war der letzte,der den Patienten vor dessen Flucht gesehen hat, und kam von dieser letzten Unterhaltung in einer aus Grauen und Erleichterung gemischten Gemütsverfassung zurück, woran sich mehrere Leute erinnerten, als drei Stunden später Wards Flucht entdeckt wurde. Diese Flucht selbst ist eines der ungelösten Rätsel in Dr. Waites Irrenanstalt. Ein offenes Fenster, volle sechzig Fuß über dem Erdboden, kann wohl kaum als Erklärung dienen, und doch war der junge Mann nach diesem Gespräch mit Willett unbestreitbar verschwunden. Willett selbst hat der Öffentlichkeit keine Erklärung anzubieten, doch er wirkt merkwürdigerweise viel ruhiger als vor dem Ausbruch. In der Tat meinen viele, er würde gerne mehr sagen, wenn er nur damit rechnen könnte, daß eine nennenswerte Anzahl von Leuten ihm Glauben schenken würde. Er hatte Ward noch in seinem Zimmer vorgefunden, aber kurz danach klopften die Wärter vergebens. Als sie die Tür aufmachten, war der Patient verschwunden, und alles, was sie bemerkten, war das offene Fenster, durch das der kalte Aprilwind eine Wolke feinen, blaugrauen Staubes ins Zimmer blies, die ihnen fast den Atem nahm. Zwar hatten die Hunde kurz zuvor gebellt, aber zu diesem Zeitpunkt war Willett noch dagewesen, und sie hatten nichts gefangen und auch später keine Unruhe mehr gezeigt. Wards Vater wurde sofort telefonisch benachrichtigt, aber er schien eher betrübt als überrascht. Als Dr. Waite ihn dann persönlich aufsuchte, hatte Dr. Willett schon mit ihm gesprochen, und sie bestritten beide, etwas mit dem Ausbruch zu tun zu haben. Nur von einigen sehr engen Freunden von Willett und dem alten Ward waren ein paar Hinweise zu bekommen, doch diese sind allzu abenteuerlich und phantastisch, um nicht bei den meisten auf Ungläubigkeit zu stoßen. Als Tatsache bleibt nur bestehen, daß bis zum heutigen Tage keine Spur von dem verschwundenen Irren entdeckt wurde.
    Charles Ward hatte von Kindheit an eine Neigung zum Altertümlichen gezeigt, die zweifellos durch die ihn umgebende altehrwürdige Stadt und die Überreste aus der Vergangenheit genährt wurde, mit denen das alte Herrenhaus seiner Eltern an der Prospect Street auf dem Gipfel des Hügels bis in den letzten Winkelangefüllt war. Mit den Jahren vertiefte sich seine Liebe zu den alten Dingen, so daß Geschichte, Genealogie und die Beschäftigung mit der Architektur, den Möbeln und dem Handwerk der Kolonialzeit schließlich alle anderen Interessen verdrängten. Diese Neigungen muß man bei der Beurteilung seines Wahnsinns berücksichtigen; denn obwohl sie nicht den eigentlichen Kern seiner geistigen Umnachtung darstellen, spielen sie doch als äußere Symptome eine wichtige Rolle. Die von den Nervenärzten festgestellten Wissenslücken bezogen sich alle auf moderne Angelegenheiten und wurden, wie man durch geschickte Fragen herausfand, in jedem Falle durch ein entsprechend tiefes, wenn auch nach außen hin verheimlichtes Wissen um vergangene Dinge ausgeglichen, so daß man beinahe den Eindruck bekommen konnte, der Patient habe sich durch irgendeine dunkle Art von Selbsthypnose buchstäblich in ein vergangenes Zeitalter versetzt. Das Merkwürdige war, daß Ward sich nicht mehr für die Altertümer zu interessieren schien, die er doch so gut kannte. Er hatte, so schien es, seine Vorliebe für diese Dinge verloren, weil er allzu sehr mit ihnen vertraut war, und am Schluß konzentrierte er offenbar all seine Kräfte darauf, jene alltäglichen Dinge der modernen Welt zu meistern, die so vollständig aus seinem Gehirn getilgt worden waren. Daß eine solche umfassende Tilgung stattgefunden hatte, suchte er mit allen Mitteln zu verbergen; aber es war allen, die ihn beobachteten, klar, daß seine gesamte Lektüre und all seine Unterhaltungen von dem verzweifelten Wunsch bestimmt waren, sich jenes Wissen über sein eigenes Leben und den gewöhnlichen praktischen und kulturellen Hintergrund des zwanzigsten Jahrhunderts anzueignen, das man angesichts seiner Geburt im Jahre 1902 und seiner Erziehung in Schulen unserer Zeit von ihm hätte erwarten können. Die Nervenärzte fragen sich jetzt, wie der entwichene Patient in Anbetracht seiner großen Wissenslücken es schafft, sich in der komplizierten Welt von heute zurechtzufinden; die vorherrschende
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