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Der Fall Charles Dexter Ward

Titel: Der Fall Charles Dexter Ward
Autoren: H. P. Lovecraft
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alten Stadt in sich aufzunehmen, wie sie sich, steil ansteigend, nach Osten hin den Hang hinauf erstreckte, verziert mit georgianischen Türmchen und gekrönt von der riesigen Kuppel der neuen Christian-Science-Kirche, wie London gekrönt ist von der Kuppel von St. Paul's. Am liebsten hatte er es, wenn er diese Stelle am Spätnachmittag erreichte, denn dann taucht die tiefstehende Sonne die Markthalle und die uralten Dächer und Türme des Hügels in goldenes Licht und verzaubert die verträumten Kais, wo die Ostindienfahrer aus Providence vor Anker zu liegen pflegten. Lange schaute er dann so, bis er von der schwärmerischen Begeisterung für diese Aussicht ganz benommen war, und dann stieg er in der Dämmerung heimwärts den Hügel hinan, vorbei an der alten weißen Kirche und durch die engen, steilen Gassen, wo gelbe Lichter hinter Fenstern mit kleinen Scheiben und aus Lünetten über doppelten Treppenaufgängen mit eigenartigen schmiedeeisernen Geländern zu leuchten begannen.
    Zu anderer Zeit, besonders in späteren Jahren, suchte er dagegen lebhafte Kontraste; dann führte ihn etwa die eine Hälfte seines Spaziergangs durch die verfallenden Viertel aus der Kolonialzeit nordwestlich von seinem Elternhaus, wo der Hügel sich zu der niedrigeren Erhebung des Stampers Hill mit seinem Getto und dem Negerviertel hinabsenkt, rings um den Platz, von demaus vor dem Freiheitskrieg die Bostoner Postkutsche abfuhr, die andere Hälfte dagegen in die anmutigen südlichen Viertel um die George, Benevolent, Power und  Williams Street, wo der Hügelabhang unverändert die schönen alten Herrenhäuser mit ihren ummauerten Gärten und steilen Rasenflächen trägt, in denen so viele duftende Geheimnisse fortleben. Diese Wanderungen und die eifrigen Studien, von denen sie begleitet waren, trugen sicherlich sehr zur Entwicklung jener Vorliebe für das Altertümliche bei, die schließlich die moderne Welt aus Charles Wards Bewußtsein verdrängte; dies war der geistige Boden, auf den in jenem schicksalhaften Winter von 1919-1920 der Samen fiel, der später auf so sonderbare und schreckliche Weise aufgehen sollte.
    Dr. Willett ist überzeugt, daß bis zu jenem unseligen Winter der ersten Veränderung Charles Wards Altertümelei nichts Morbides hatte. Friedhöfe erregten sein Interesse höchstens durch die Eigenart ihrer Anlage oder ihre geschichtliche Bedeutung, und Gewalttätigkeit oder wilde Instinkte waren ihm absolut fremd. Doch dann schien sich auf heimtückisch langsame Weise ein Nachspiel zu einem seiner genealogischen Erfolge aus dem Jahr zuvor zu entwickeln; damals hatte er unter seinen Vorfahren mütterlicherseits einen gewissen Joseph Curwen entdeckt, der ein sehr hohes Alter erreicht hatte. Curwen war im März 1692 aus Salem gekommen, und eine Reihe höchst merkwürdiger und beunruhigender Flüstergeschichten rankte sich um seine Person.
    Wards Ururgroßvater Welcome Potter hatte im Jahre 1785 eine gewisse »Ann Tillinghast, Tochter der Mrs. Eliza, derTochter des Kapitäns James Tillinghast« geehelicht, über deren Abkunft väterlicherseits die Familienchronik nichts zu berichten wußte. Gegen Ende 1918 stieß der junge Genealoge bei der Durchsicht einer Originalhandschrift im Stadtarchiv auf eine Eintragung über eine legale Namensänderung, durch die im Jahre 1772 eine Mrs. Eliza Curwen, Witwe des Joseph Curwen, zusammen mit ihrer sieben Jahre alten Tochter Ann wieder ihren Mädchennamen Tillinghast angenommen hatte; die Begründung lautete, daß »der Name ihres Gemahls eine öffentliche Beschimpfung geworden sei, aufgrund dessen, was nach seinem Hinscheiden bekannt wurde; wodurch ein altes Gerücht sich bestätigt habe, welchem ein treues Eheweib jedoch nicht habe Glauben schenken können, bevor es gänzlich zweifelsfrei bewiesen worden sei«. Diese Eintragung entdeckte er, als er zufällig zwei Blätter voneinandertrennte, die sorgfältig zusammengeklebt und bei einer Revision der Seitenzahlen als ein Blatt behandelt worden waren.
    Charles Ward war augenblicklich überzeugt, daß er tatsächlich einen bisher unbekannten Urururgroßvater gefunden hatte. Diese Entdeckung erregte ihn um so mehr, als er schon früher auf verschwommene Berichte und vereinzelte Anspielungen im Zusammenhang mit diesem Mann gestoßen war, über den es so wenige öffentlich zugängliche Unterlagen gab, abgesehen von jenen, die erst in modernen Zeiten zugänglich wurden, daß es beinahe schien, als sei ein Komplott geschmiedet worden, um sein
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