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Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)

Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Cay Rademacher
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die sich später selbst zu Diktatoren aufschwingen. »Wie die Tiere«, sagt der Sprecher.
    Stave ertappt sich dabei, dass er beinahe widersprochen hätte: wie die Menschen. Fang bloß nicht an, mit dem Radio zu diskutieren, ermahnt er sich. Anna ist schon längst eingeschlafen, doch er lauscht noch den Parolen der Schweine und denkt dabei an Krieg und Revolution.
    Seine Gedanken wandern zu MacDonald, der mit Frau und Kind in eine belagerte Stadt reist. Ein neuer Krieg? Berlin muss ein Paradies für Agenten sein – eine Stadt, in der man nur die Straßenseite wechseln muss, um in einen anderen Sektor zu gelangen. Eine Stadt, in der die Geister von Mord und Schändung zwischen den Ruinen schweben. In der Männer noch im Inferno Propagandafilme drehen, bis einer sein Bein durch eine Granate verliert. In der man einen Diplomaten namens Klaus von Gudow das letzte Mal lebend gesehen hat. Eine Stadt, die man vor ein paar Tagen noch mit einer zweistündigen Zugfahrt erreichen konnte und die nun so abgeriegelt ist wie Moskau.
    Ob Karl wieder in einen Krieg ziehen muss? Ob er selbst wieder in den Ruinen zerbombter Häuser nach Körpern suchen wird? Er hält Anna fester im Arm. Je müder er wird, desto mehr zerfasern seine Überlegungen. Doktor Czrisini, der sich zu Tode hustet und sich nicht in sein leeres Haus traut, der vielleicht genau in dieser Stunde seinen letzten Atemzug tut. Oberinspektor Dönnecke, der möglicherweise genau demselben Hörspiel lauscht. Ob es ihn auch beunruhigt? Oder ob einer wie er immer tief schlafen wird, sicher in dem Glauben, stets auf der richtigen Seite zu stehen? Kurt Flasch von der Landeszentralbank unten im Erdgeschoss. Wird der schlafen können? Oder wird er, nach zwei Tagen Gefängnis aufgrund von Schwarzmarktdelikten entlassen, für immer Angst haben, dass die eine Verfehlung seines Beamtenlebens doch noch irgendwann ans Licht kommen und ihn ruinieren wird? Dass ein paar verdruckte Pfennig-Scheine sein Verhängnis werden können?
    Wen kümmern da noch ein paar beschädigte Kunstwerke in einem Trümmerhaus? Wen interessiert ein Toter mit einem seltsamen Loch im Schädel? Was ändert das an den Weltläufen? Man kann nicht immer gewinnen, hat der Staatsanwalt behauptet. Ehrlich muss es wissen.
    Um Mitternacht endet das Hörspiel. Keine Hoffnung. Das Ringen zwischen Rebellion und Unterdrückung wird ewig weitergehen. Nichts Schönes ist von Dauer, alles wird verfallen. Stave steht behutsam auf und schleicht sich zum Radio. Er will schon den Knopf ausdrehen, da blickt er sich um: Anna auf dem zerwühlten Bett, schlafend, im gelben Licht der Radioröhre. Da möchte er jauchzen vor Glück, möchte zum Fenster stürzen, es aufreißen und seine Erkenntnis über die verlassene Straße brüllen. Stattdessen gleitet er zurück ins Bett, schließt seine Geliebte wieder in die Arme und haucht ihr ins Ohr, was er nicht zu schreien wagt: »Wir leben nicht umsonst. Wir werden nicht verlieren. Diesmal nicht.«

Der Turm von Sankt Nikolai
    Freitag, 25.   Juni 1948
    Das Holz auf der Landungsbrücke glänzt im Regen. Auf der Elbe tanzen Wellen, die von Hunderten Barkassen, Schleppern und Frachtschuten aufgeworfen werden. Im Strom gleitet ein amerikanischer Liberty-Frachter Richtung Nordsee, der schwarze Kohlenqualm aus seinem Schornstein hängt in der feuchten Luft wie ein an der Leine vergessenes Laken. Anna hat sich in Staves linken Arm eingehakt. Sie hat den Mantelkragen gegen die Windböen hochgeschlagen und ihre schwarzen Haare zum Schutz gegen das Wetter unter einem Tuch verborgen. Stave hält in der Rechten einen Blumenstrauß, den er mit seinem Oberkörper unbeholfen gegen den Niederschlag schützt.
    »Sie haben keinen Union Jack, mit dem Sie uns winken werden?« MacDonald schreitet mit weitem Schritt über den Steg, der die Landungsbrücke mit dem Elbufer am Baumwall verbindet. Dunkle Ausgehuniform, polierte Abzeichen, glänzende Schuhe, trotz des Regens. Erna an seiner Seite im weiten Mantel. Sie schiebt Iris in einem Kinderwagen, ein Bündel, eingewickelt in weiße Tücher wie eine winzige Mumie. Staves ehemalige Sekretärin ist noch etwas rundlicher, als er sie in Erinnerung hat, doch ihre Wangen sind blass. Vielleicht ist sie schon wieder schwanger, vermutet der Oberinspektor. Oder vielleicht ist es nur die Aufregung.
    Während sich die Frauen umarmen, als seien sie schon ewig befreundet, stehen Stave und MacDonald verlegen daneben.
    »Danke für die Zusammenarbeit«, murmelt der Oberinspektor
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