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Der Fälscher aus dem Jenseits

Der Fälscher aus dem Jenseits

Titel: Der Fälscher aus dem Jenseits
Autoren: Pierre Bellemare
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Staffelei.«
    Die Krankenschwester betrachtete den jungen Mann und lächelte.
    »Ich komme gleich wieder und bringe Ihnen alles.« Natürlich kehrte sie nicht mit der Palette und den Pinseln zurück, sondern mit Doktor Sheppard, dem Chefarzt. Er untersuchte William mit einem sichtlich besorgten Gesichtsausdruck.
    »Sie dürfen sich nicht so aufregen.«
    Doch der Kuhhirt wurde immer erregter.
    »Wo sind die Pinsel? Wo um Himmels willen sind sie denn?«
    Dr. Sheppard flüsterte der Krankenschwester zu, sie solle ihm eine Beruhigungsspritze geben. Als William Laurens daraufhin eindöste, hob der Arzt den Kopf.
    »Das gefällt mir gar nicht. Dabei waren die Röntgenaufnahmen in Ordnung. Aber mit einem Schlag auf den Kopf...«
    Eine Woche verging. Dann betrat Dr. Sheppard wieder William Laurens’ Krankenzimmer, dessen Krankenakte unter den Arm geklemmt. Er warf einen Blick hinein und schüttelte ungläubig den Kopf. Alle Werte des Kranken waren normal. Er hatte kein Fieber, zeigte guten Appetit. Außerdem hatte er eine ausgezeichnete Konstitution, doch seit er vom Pferd gefallen war, litt er unter einer fixen Idee.
    »Nun, wie geht es uns heute?«
    »Ich will malen.«
    »Aber, mein armer Freund, warum denn?«
    »Um zu wissen, wer ich bin. Sobald ich vor einer Leinwand stehe, werde ich es wissen, vorher nicht. Das ist
    unerträglich! Verstehen Sie nicht, wie unerträglich es ist, nicht zu wissen, wer man ist?«
    »Sie sind William Laurens, Kuhhirt bei Mister Allyson.«
    »William Laurens? Wer ist dieser komische Kauz? Ich ein Kuhhirt? Ich hoffe, Sie scherzen.«
    Dr. Sheppard hörte ihm mit seltsamem Unbehagen zu. Der Kranke aber fuhr fort: »Ich flehe Sie an: Helfen Sie mir, meine Identität wieder zu finden. Sie ist vergraben in einem Winkel meines Gedächtnisses, aber ich kann sie nicht finden.«
    Der Arzt wurde immer irritierter. Die Art, wie sich der Kranke ausdrückte, seine Redewendungen und sein Vokabular passten nicht zu einem einfachen Kuhhirten. Er wollte Gewissheit haben. Zufällig war er selbst Hobbymaler und besaß alles, was dazu nötig war. Er berührte Williams Schulter.
    »Gut, morgen bekommen Sie alles, was Sie brauchen.« Am nächsten Tag schleppte der Arzt mit Unterstützung der Krankenschwester eine Staffelei, eine große Leinwand und mehrere Pinsel herbei. William Laurens stieß einen freudigen Schrei aus.
    »Schnell, geben Sie das her.«
    Dr. Sheppard sah zu, wie er alles aufstellte.
    »Was wollen Sie malen? Die Landschaft des Parks? Das Porträt Ihrer Krankenschwester?«
    William Laurens feixte, als er sich auf die Pinsel stürzte. »Das, was ich male, ist nicht von hier.«
    Vor der Leinwand verhielt sich der Kuhhirte wie besessen. In groben Zügen bedeckte er die weiße Fläche mit Farbtupfern. Das Außergewöhnlichste daran war, dass es nicht irgendein Gekleckse war. Was er malte, war gut, sogar sehr gut. Es war einfach verblüffend.
    Das Bild stellte eine stark beleuchtete Theaterszene dar. Im Hintergrund tanzte eine Gruppe von Tänzerinnen einen Cancan; im Vordergrund sah man im Parkett Herren mit Zylinder und Gehrock. Das Bild war sehr realistisch. Die Wiedergabe der Bewegung und des Lichts war bewundernswert. Das war... Ja, das war Toulouse-Lautrec, wie William Laurens gerade rechts unten signierte.
    William Laurens setzte sich auf die Bettkante und wirkte erschöpft.
    »Das ist gut. Jetzt weiß ich, wer ich bin.«
    »Wollen Sie es mir sagen?«
    »Montmartre, Moulin-Rouge, ich weiß... Ich muss jetzt die Klinik verlassen, denn ich habe zu arbeiten.«
     
    Gregor O’Brady klopfte an die Tür eines kleinen, in ein Atelier umgewandelten Hauses in San Francisco, das an einer der leicht ansteigenden Straßen lag, die den Zauber dieser Stadt ausmachen. Auch in diesem Künstleratelier herrschte eine besondere Atmosphäre. Doch Gregor O’Brady war an Künstlerateliers gewöhnt, da er die größte Gemäldegalerie Kaliforniens besaß.
    William Laurens, der ihm öffnete, hatte blutunterlaufene Augen, sein Blick jedoch verriet Inspiration. Er hatte einen Dreitagebart und sein Atem roch nach Alkohol. Der Kunsthändler stellte sich vor und sagte: »Ich freue mich, den Mann kennen zu lernen, von dem ganz San Francisco spricht: die Reinkarnation von Toulouse-Lautrec.«
    William Laurens grummelte mürrisch: »Was wollen Sie von mir? Machen Sie es kurz...«
    Gregor O’Brady, ein kräftiger Mann mit einem intelligenten Gesicht, stimmte ihm zu.
    »Auch ich verplempere ungern meine Zeit, Monsieur Laurens.
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