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Der Eunuch

Titel: Der Eunuch
Autoren: Johannes Tralow
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wenn man die Masse dieser Menschen ansieht, jeder einen andern Herrn, zumeist sind sie Sklaven des Bodens, den sie bebauen. Hunger ist ihr Lohn, Tränen sind ihr Los. Ein unmenschlicher Druck, der die Peitsche nicht schont, schindet aus ihnen und ihren Kindern das Letzte an Kraft. Das Land, das sie bebauen, ist nicht ihr Land. Der Staat, in dem sie leben, ist nicht ihr Staat. Die Kriege, in denen sie unter Stockprügeln kämpfen müssen, sind Kriege gegen sie selbst oder gehen sie nichts an. Warum fliehen sie nicht, wenn sie die dünne Herrenschicht schon nicht töten wollen? Gewiß, in den Grenzbezirken, zumal in den ungarischen, gibt es genug Leibeigene, die uns kennen und die entweder für sich selbst die milde türkische Haussklaverei vorziehen oder Frau und Töchter ihr überlassen, um mit dem Kaufpreis die drückendsten Steuern abzutragen. Aber sonst! - Mein Padischah! Wenn wir gegen ein Übel ankämpfen wollen, dürfen wir uns vor Erkenntnissen nicht fürchten. Auch wir haben unter uns Rechtgläubigen genug Unwissende und Dumme. Sie fühlen sich über alle andern Völker erhaben, was ihnen ein Trost ist, ohne daß es unsere Macht stärkt. Sie tun niemandem wohl und niemandem weh. Die Herren der Abendländer dagegen lassen die Macht der Dummheit nicht ungenutzt verkommen. Sie machen ihre Völker glauben, daß wir Türken gar keine richtigen Menschen seien, sondern daß uns Mund und Nase zu einem Rüssel zusammenwachsen. Rüsseltürken nennt man uns im Abendland vielerorts.“
    „Das wagen sie?!“ ergrimmte Ahmed. „Und was sagen sie von mir ? “
    „Es sind Unwissende, und sie wollen es sein. Sie sehen nie Euer Majestät Pracht und erhabenen Glanz. Und wenn sie alles gesehen hätten, würden sie es nicht gesehen haben wollen. - Unwissenheit und Dummheit sind eine Macht, eine furchtbare Macht, aber nur, wenn die Lüge sie in Haß verwandelt. Und dieser Haß umgibt uns, mit diesem unstillbaren Haß schirmt sich das Abendland oder vielmehr dessen Nutznießer und Herren schirmen es gegen uns ab, immer in der Hoffnung, uns eines Tages vernichten zu können. Verträge? Sie halten sie nur so lange sie glauben, aus ihnen Nutzen zu ziehen. Die Gesetze der Menschlichkeit üben sie nicht einmal unter sich. Wie sollten sie uns gegenüber sie nicht verleugnen? Treu und gerecht ist nur der Tote, weil ihm die Macht fehlt, sich gegen Recht und Treue zu vergehen, die der Koran durch Allahs Gnade uns eingepflanzt hat. Es bedeutet gar nichts, wenn abendländische Gesandte dieses oder jenes von deiner Hohen Pforte erbitten, meist einen kleinen Krieg, der allein ihren Interessen dient. Sie bleiben das, was sie waren und sind: unsere Feinde. Sie würden alles versprechen; aber selbst wenn wir ihre Bitten gewährten - das ganz bestimmte Stück Papier würden sie uns trotzdem versagen: einen klaren und reinlichen Bündnisvertrag. Unsere Hilfe möchten sie schon haben, aber nie und nimmer mit uns verbündet gewesen sein. Sie hätten dann die Meinung aller Ungläubigen gegen sich. Wenn aber eine in Gold und Soldaten errechenbare Hilfe sie weniger wertvoll dünkt als die europäische Meinung, so muß diese Meinung wohl eine sehr große Macht darstellen. Und wenn das bezweifelt werden sollte, schlage ich vor, die Reichsarchive zu öffnen. — Seit Soliman dem Großen und Franz I. von Frankreich sind wir gewohnt, Frankreich als ein verbündetes
    Land zu betrachten, und tatsächlich haben wir diesem Lande schon große Dienste geleistet. Dennoch wird sich nicht ein einziger Bündnisvertrag vorfinden. Ich behaupte, daß sich daran nichts geändert hat, und wenn Seine Hoheit der Großwesir unserm Pariser Botschafter befehlen würde, dem Wesir des Königs Ludwig XV. einen Bündnisvertrag vorzuschlagen, würde der hohe Herr sicher sehr gewinnend von alter Freundschaft plaudern, aber niemals in einen Vertrag mit uns willigen. Wir sind allein, Padischah. Warum aber ist es so? Etwa wegen der Religion? Warum sollte sie? Der Sohn der Maria, Jesus, gehört auch zu unsern Propheten, und wir feiern sein Fest. Mohammeds Befehl gemäß achten wir in Christen und Juden als Kindern des Buches unsere Religionsverwandten. Zwischen Bibel und Koran gäbe es genug Brücken, die von Ufer zu Ufer führten. Es ist etwas anderes, was uns trennt. - Die Abendländer haben eine einzige Bibel, aber vielerlei Recht. Die Fürsten haben ihr eigenes Recht, die Geistlichkeit ein anderes und ebenso die Leute, die sie ihren Adel nennen. Sah jemand schon bei ihnen einen
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