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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Er flickte eine sehr zerrissene Kniehose und saß am Fensterbrett, um das wenige Licht auszunützen, das es an diesem dunklen Tag gab. Es war einen halben Monat nach Sonnenrückkehr und bis jetzt die kälteste Zeit.
    »Was hat er denn gesagt?«
    »›Eine Frau auf Gont‹. So hast du es mir erzählt.«
    »Aber sie fragten, wer der nächste Oberste Magier wird.«
    »Und erhielten auf diese Frage keine Antwort.«
    »Unzählig sind die Argumente der Magier«, bemerkte Tenar trocken.
    Ged biß den Faden ab und wickelte den Rest um zwei Finger.
    »Ich habe auf Rok gelernt, ein bißchen Haarspalterei zu betreiben«, gab er zu. »Aber ich glaube nicht, daß dies Haarspalterei ist. ›Eine Frau auf Gont‹ kann nicht Oberster Magier werden. Keine Frau kann Oberster Magier werden. Indem sie es wird, höbe sie auf, was sie geworden war, indem sie es wurde. Die Magier von Rok sind Männer – ihre Macht ist die Macht von Männern, ihr Wissen ist das Wissen von Männern. Sowohl Mannstum als auch Zauberkunst sind auf einen Felsen erbaut: Die Macht gehört den Männern. Wenn die Frauen Macht besäßen, was wären dann die Männer anderes als Frauen, die keine Kinder gebären können? Und was wären dann die Frauen anderes als Männer, die es können?«
    Tenar machte »Ha!« und meinte dann listig: »Es hat doch Königinnen gegeben. Waren das nicht mächtige Frauen?«
    »Eine Königin ist nur ein weiblicher König«, stellte Ged fest.
    Tenar schnaubte.
    »Ich meine, daß die Männer ihr die Macht geben. Sie lassen zu, daß sie die Macht der Männer benutzt. Aber es ist nicht ihre Macht. Sie ist nicht deshalb mächtig, weil sie eine Frau ist, sondern trotzdem.«
    Sie nickte, streckte sich und lehnte sich zurück. »Was ist dann die Macht einer Frau?«
    »Ich glaube nicht, daß wir es wissen.«
    »Wann besitzt eine Frau Macht, weil sie eine Frau ist? Vermutlich ihren Kindern gegenüber. Eine Zeitlang …«
    »Vielleicht in ihrem Haus.«
    Sie sah sich in der Küche um. »Aber die Türen sind geschlossen, die Türen sind versperrt.«
    »Weil du wertvoll bist.«
    »O ja. Wir sind kostbar. Solange wir machtlos sind … Ich erinnere mich, wann ich das erkannte! Kossil drohte mir – mir, der Einzigen Priesterin der Gräber. Und mir wurde klar, daß ich hilflos war. Ich hatte die Ehre; aber sie hatte die Macht, vom Gott-König, dem Mann. Wie zornig ich darüber wurde! Und es erschreckte mich … Lerche und ich haben einmal darüber gesprochen. Sie fragte: ›Warum haben die Männer Angst vor den Frauen?‹«
    »Wenn deine Stärke nur die Schwäche des anderen ist, lebst du in Angst«, erklärte Ged.
    »Ja, aber die Frauen scheinen ihre eigene Stärke zu fürchten, vor sich selbst Angst zu haben.«
    »Hat man sie je gelehrt, sich selbst zu vertrauen?« wollte Ged wissen, und während er sprach, kam Therru wieder mit ihrer Arbeit herein. Er und Tenar sahen sich an.
    »Nein«, gab sie zu, »Vertrauen lehrt man uns nicht.« Sie sah zu, wie das Kind das Holz in der Kiste aufstapelte. »Wenn Macht Selbstvertrauen wäre«, fuhr sie fort. »Mir gefällt das Wort. Wenn es nicht alle diese Rangordnungen gäbe … einer über dem anderen … Könige, Meister, Magier, Hausherren … Das alles kommt mir so unnötig vor. Wirkliche Macht, wirkliche Freiheit würden auf Vertrauen, nicht auf Stärke beruhen.«
    »So wie Kinder ihren Eltern vertrauen.«
    Sie schwiegen beide.
    »Wie die Dinge jetzt stehen, ist sogar Selbstvertrauen schädlich«, bemerkte er. »Die Männer auf Rok vertrauen sich und den anderen. Ihre Macht ist rein, nichts befleckt ihre Reinheit, und deshalb halten sie diese Reinheit für Weisheit. Sie können sich nicht vorstellen, daß sie etwas Unrechtes tun.«
    Sie blickte zu ihm auf. Er hatte noch nie zuvor so von Rok gesprochen, so vollkommen als Außenstehender, befreit.
    »Vielleicht brauchen sie dort ein paar Frauen, die sie auf diese Möglichkeit aufmerksam machen«, sagte sie, und er lachte.
    Sie setzte das Spinnrad wieder in Bewegung. »Ich verstehe noch immer nicht, warum es keine weiblichen Obersten Magier geben kann, wenn es weibliche Könige gibt.«
    Therru hörte zu.
    »Heißer Schnee, trockenes Wasser«, zitierte Ged ein gontisches Sprichwort. »Die Könige erhalten ihre Macht von anderen Männern. Die Macht eines Magiers gehört ihm – ist er selbst.«
    »Und es ist eine männliche Macht. Weil wir nicht einmal wissen, worin die Macht einer Frau besteht. In Ordnung. Ich verstehe. Aber trotzdem, warum findet man keinen
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