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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Obersten Magier – keinen männlichen Obersten Magier?«
    Ged betrachtete den zerrissenen inneren Saum seiner Hose. »Wenn der Meister Formgeber ihre Frage nicht beantwortete, dann beantwortete er eine Frage, die sie nicht gestellt hatten. Vielleicht müßten sie sie stellen.«
    »Ist es ein Rätsel?« fragte Therru.
    »Ja«, erwiderte Tenar. »Aber wir kennen das Rätsel nicht. Wir kennen nur die Lösung. Die Lösung lautet: eine Frau auf Gont.«
    »Von denen gibt es eine Menge«, stellte Therru fest, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte. Sie war offensichtlich damit zufriedengestellt, denn sie ging hinaus, um die nächste Ladung Anzündholz zu holen.
    Ged sah ihr nach. »›Alles hat sich verändert.‹ Alles … Manchmal denke ich, Tenar … ich frage mich, ob Lebannens Herrschaft vielleicht nur ein Anfang ist. Eine Tür … Und er ist der Hüter dieser Tür. Der nicht hindurchgehen soll.«
    »Er wirkt so jung«, sagte Tenar zärtlich.
    »Genauso jung, wie Morred war, als er den Schwarzen Schiffen entgegentrat. Genauso jung, wie ich war, als ich …« Er stockte und blickte durch das Fenster auf die gefrorenen grauen Felder hinter den blattlosen Bäumen. »Oder wie du, Tenar, an dem dunklen Ort … Was sind Jugend oder Alter? Manchmal weiß ich es nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich tausend Jahre gelebt habe; manchmal habe ich das Gefühl, daß mein Leben wie eine fliegende Schwalbe war, die man durch eine Mauerritze sieht. Ich bin mehr als einmal gestorben und wurde wiedergeboren, sowohl im trokkenen Land als auch hier unter der Sonne. Die Erschaffung erklärt uns, daß wir alle zur Quelle zurückgekehrt sind und ewig zu ihr zurückkehren und daß die Quelle fortwährend ist. Nur im Sterben, Leben … Daran habe ich gedacht, als ich mit den Ziegen auf dem Berg war und ein Tag ewig dauerte und dennoch keine Zeit verging, bis der Abend kam und dann wieder der Morgen … Ich lernte die Weisheit der Ziegen. Deshalb dachte ich: Welchen Sinn hat mein Kummer? Um welchen Menschen trauere ich? Um Ged, den Obersten Magier? Warum ist Falk, der Ziegenhirt, seinetwegen krank vor Kummer und Scham? Was habe ich getan, dessen ich mich schämen müßte?«
    »Nichts. Nie«, antwortete Tenar.
    »O doch«, widersprach Ged. »Alle Größe der Menschen beruht auf Scham, entspringt aus Scham. Falk, der Ziegenhirt, weinte um Ged, den Obersten Magier. Und hütete auch die Ziegen, so gut man es von einem Jungen seines Alters erwarten konnte …«
    Nach einer Weile lächelte Tenar und bemerkte ein wenig schüchtern: »Tantchen Moor hat gesagt, daß du etwa fünfzehn warst.«
    »Das könnte ungefähr stimmen. Ogion gab mir im Herbst meinen Namen, und im nächsten Sommer kam ich nach Rok … Wer war dieser Junge? Eine Leere … Eine Freiheit.«
    »Wer ist Therru, Ged?«
    Er antwortete erst, als sie schon glaubte, er werde nicht mehr antworten, und sagte: »So zugerichtet – welche Freiheit gibt es da für sie?«
    »Dann sind wir also unsere Freiheit?«
    »So glaube ich.«
    »In deiner Macht schienst du so frei zu sein, wie es ein Mensch nur sein kann. Aber um welchen Preis? Was machte dich frei? Und ich … Ich wurde geschaffen, geformt wie Ton, durch den Willen der Frauen, die den Alten Mächten dienten oder den Männern dienten, die alle Dienste, Wege und Orte schufen, ich weiß nicht mehr, welche. Dann wurde ich bei dir und bei Ogion einen Augenblick lang frei. Aber es war nicht meine Freiheit. Sie ermöglichte mir nur die Wahl; und ich wählte. Ich traf die Wahl, mich wie Ton für den Bedarf eines Hofs, eines Bauern und unserer Kinder zu formen. Ich machte mich zu einem Gefäß. Ich kenne seine Form. Aber nicht den Ton. Das Leben ließ mich tanzen. Ich kenne die Tänze. Aber ich weiß nicht, wer der Tänzer ist.«
    »Und sie …«, sagte Ged nach langem Schweigen, »… wenn sie je tanzen könnte …«
    »Sie werden sie fürchten«, flüsterte Tenar. Dann kam das Kind wieder herein, und das Gespräch wandte sich dem Brotteig zu, der in der Schüssel neben dem Backrohr ruhte. Sie unterhielten sich ruhig und lange, kamen von einem Thema zum nächsten, bewegten sich im Kreis und zurück, den halben kurzen Tag lang, oft, spannen und nähten ihr Leben mit Worten zusammen, die Jahre, die Taten und die Gedanken, die sie nicht geteilt hatten. Dann schwiegen sie wieder, arbeiteten, dachten und träumten, und das schweigende Kind saß bei ihnen.
    So verging der Winter, bis die Lammzeit kam und die Arbeit eine
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