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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
Autoren: Ursula K. LeGuin
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sonst hingehen sollte. Im Gang traf er auf einen alten Mann, der ihm zulächelte. Tiefe Furchen zogen sich von seiner Nase bis hin zum Kinn. Es war derselbe, der ihn tags zuvor zum Portal des Großhauses eingelassen hatte, als er vom Hafen heraufgestiegen kam, und der ihm zuvor seinen wahren Namen abverlangte. »Komm mit mir!« sagte Meister Pförtner.
    Die Räume und Flure in diesem Teil des Gebäudes waren ruhig und still. Keine Jungen lärmten und lachten hier, niemand rannte die Korridore entlang. Hier spürte man das hohe Alter dieses Gemäuers. Der Zauber, der in den uralten Steinen verborgen war, der sie schützte, lag fast greifbar in der Luft. In bestimmten Abständen waren Runen tief in die Wände gehauen, manche waren mit Silber eingelegt. Arren hatte die hardischen Runen von seinem Vater gelernt, doch diese hier waren ihm unbekannt, obwohl die Bedeutung mancher ihm vertraut schien, so als ob er sie schon einmal gekannt, doch inzwischen wieder vergessen hätte.
    »Hier hinein, mein Junge«, sagte der Pförtner, der sich nicht um Titel kümmerte, sei es Prinz oder Fürst. Arren folgte ihm in einen langen, niederen Raum mit mächtigen Deckenbalken. Ein Feuer brannte in einem aus Stein gefügten Kamin und spiegelte sich im polierten Eichenboden; von der gegenüberliegenden Wand fiel das helle, graue Licht des Nebels durch hohe Spitzbogenfenster. Vor dem Kamin stand eine Gruppe Männer, doch unter ihnen nahm er nur einen wahr: den Erzmagier. Er hielt in seiner Bewegung inne, verbeugte sich und stand da, ohne zu reden.
    »Arren, dies sind die Meister von Rok; sieben von den insgesamt neun. Der Meister der Formgebung verläßt seinen Hain nicht, und der Meister Namengeber befindet sich in seinem Turm, ungefähr zwanzig Meilen nördlich von hier. Sie alle kennen deine Botschaft. Meine Herren, dies hier ist Morreds Sohn.«
    In Arren rief diese Bezeichnung keinen Stolz hervor, im Gegenteil, er war bestürzt. Gewiß, er war stolz auf seine Familie, doch sah er sich nur als einen Nachfolger seines Vaters, als einen Prinzen aus dem Hause Enlad. Morred, der Stammvater des Hauses, war schon seit 2000   Jahren tot. Seine Taten wurden in Liedern besungen, Legenden umgaben ihn, doch er, Arren, gehörte in diese gegenwärtige Welt. Es war ihm, als hätte der Erzmagier ihn als einen Menschen aus grauer Vorzeit, als einen Erben von Träumen vorgestellt.
    Er wagte nicht, seinen Blick zu heben und die acht Magier anzusehen, er hielt seine Augen auf den mit Eisen beschlagenen Stab des Erzmagiers gerichtet und fühlte, wie ihm das Blut in den Ohren brannte.
    »Kommt, frühstücken wir miteinander«, sagte der Erzmagier und führte sie an Tische, die an den Fenstern standen. Es gab Milch, saures Bier, Brot, frische Butter und Käse. Arren saß unter ihnen und aß.
    Sein ganzes Leben hatte Arren unter Adligen, Großgrundbesitzern und reichen Kaufleuten verbracht. Seines Vaters Halle war immer voll gewesen von Männern, die viel besaßen, die kauften und verkauften, die viel von den Schätzen dieser Welt in ihrem Besitz hatten. Sie aßen Fleisch, tranken Wein und redeten laut; viele erregten sich beim Sprechen, viele schmeichelten seinem Vater oder anderen Männern, die ihnen eine Gunst erweisen konnten, denn alle waren auf Gewinn aus. Trotz seiner Jugend hatte Arren die menschliche Natur studiert und die Verstellungen, die Scheinheiligkeiten und die Falschheit im Umgang unter den Menschen beobachtet. Noch nie hatte er unter Männern wie diesen hier geweilt. Sie aßen Brot, redeten wenig und ihre Gesichter waren ruhig. Wenn sie etwas suchten, so taten sie das nicht, um selbst dabei zu gewinnen. Und doch waren es Männer, die große Macht besaßen: auch das nahm Arren wahr.
    Sperber, der Erzmagier, saß oben am Tisch und schien zuzuhören, was um ihn herum gesprochen wurde. Ihn selbst umgab Stille, und niemand sprach ihn an. Auch Arren ließ man in Ruhe, und er hatte Zeit, seine Gedanken zu sammeln. Links neben ihm saß der Pförtner, rechts von ihm saß ein grauhaariger Mann mit freundlichen Zügen, der schließlich zu ihm sprach: »Wir sind Landsleute, Prinz Arren. Ich komme aus dem Osten von Enlad, aus der Nähe des Aolwaldes.«
    »Dort habe ich schon gejagt«, erwiderte Arren, und sie sprachen über die Wälder und Städte der geschichtsträchtigen Insel, und beim Gedanken an seine Heimat wurde es Arren wohl ums Herz.
    Als das Mahl beendet war, kamen sie wieder vor dem Kamin zusammen, manche saßen, andere standen, und eine
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