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Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee
Autoren: Ursula K. LeGuin
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lernten. Sie lehrten uns, jeder Seele ihren wahren Namen zu geben: welcher ihre Wahrheit ist, ihr Selbst. Und mit ihrer Macht gewährten sie denen, die ihren wahren Namen tragen, ein Leben über den Tod des Leibes hinaus.«
    »Unsterbliches Leben«, sprach Seppel leise das Wort aus. Er lächelte ein wenig, als er fortfuhr: »In einem großen Land voller Flüsse und Berge und wunderschöner Städte, wo es weder Leid noch Schmerz gibt und wo das Selbst fortdauert - unverändert, unwandelbar, in alle Ewigkeit ... Das ist der Traum der alten Lehre von Paln.«
    »Wo«, fragte der Gebieter, »ist dieses Land?«
    »Auf dem anderen Wind«, sagte Irian. »Im Westen hinter dem Westen.« Sie schaute jeden Einzelnen aus dem Kreis an, verächtlich, erzürnt. »Glaubt Ihr, wir Drachen fliegen nur auf den Winden dieser Welt? Glaubt Ihr, unsere Freiheit, für die wir allen Besitz fahren ließen, ist nicht größer als die der geistlosen Seemöwen? Glaubt Ihr, unser Reich sind ein paar Felsen am Rande Eurer reichen Inseln? Ihr besitzt die Erde, Ihr besitzt das Meer. Aber wir sind das Feuer der Sonne, wir fliegen auf dem Wind! Ihr wolltet Land besitzen. Ihr wolltet Dinge erschaffen und behalten. Und das habt Ihr. Das war die Trennung, der verw nadan. Aber Ihr wart nicht zufrieden mit Eurem Anteil. Ihr wolltet nicht nur Eure Sorgen, sondern unsere Freiheit. Ihr wolltet den Wind! Und mittels der Zaubersprüche und Hexereien jener Eidbrecher stahlt Ihr uns unser halbes Reich und schottetet es mit einer Mauer gegen das Leben und das Licht ab, damit Ihr dort auf ewig leben konntet. Diebe, Verräter!«
    »Schwester«, versuchte Tehanu sie zu beschwichtigen. »Dies sind nicht die Menschen, die uns bestahlen. Es sind die, die den Preis dafür zahlen.«
    Schweigen folgte ihrer heiseren, leisen Stimme.
    »Was war der Preis?«, fragte der Namengeber.
    Tehanu schaute Irian an. Irian zögerte, und dann sagte sie mit gedämpfter Stimme: »Gier löscht die Sonne aus. Das sind Kalessins Worte.«
    Azver, der Formgeber, ergriff nun das Wort. Während er sprach, spähte er in die Schneisen zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung, als folgte er den sanften Bewegungen der Blätter. »Die Alten sahen, dass das Drachenreich nicht bloß eines des Leibes war. Dass sie fliegen konnten ... außerhalb der Zeit ... Und da sie ihnen diese Freiheit neideten, folgten sie dem Weg der Drachen in den Westen jenseits des Westens. Dort beanspruchten sie einen Teil jenes Reiches für sich. Ein zeitloses Reich, wo das Selbst ewig sein konnte. Aber nicht körperlich, wie die Drachen. Nur geistig konnten die Menschen dort sein ... Also bauten sie eine Mauer, die kein Lebender überwinden konnte, gleich ob Mensch oder Drache. Denn sie fürchteten den Grimm der Drachen. Und ihre Namengebungskünste legten ein großes Netz von Zaubersprüchen über alle westlichen Lande, damit, wenn die Menschen der Inseln sterben, sie nach dem Westen jenseits des Westens kämen und dort für immer im Geiste leben würden.
    Doch als die Mauer gebaut und der Bann gelegt ward, hörte der Wind auf zu wehen, innerhalb der Mauer. Das Meer zog sich zurück. Die Quellen hörten auf zu sprudeln. Die Berge des Sonnenaufgangs wurden die Berge der Nacht. Die, die starben, kamen in ein dunkles Land, ein trockenes Land.«
    »Ich bin in jenem Land gewandelt«, sagte Lebannen, leise und widerwillig. »Ich fürchte den Tod nicht, aber ich fürchte es.«
    Es folgte ein langes Schweigen.
    »Cob und Thorion«, sagte der Gebieter in seiner rauen, widerwillig klingenden Stimme, »sie versuchten die Mauer einzureißen. Um die Toten ins Leben zurückzuholen.«
    »Nicht ins Leben, Meister«, sagte Seppel. »Doch wie die Runenmacher suchten sie das körperlose, unsterbliche Selbst.«
    »Aber ihre Zaubersprüche störten jenen Ort«, beharrte der Gebieter grimmig. »Deshalb begannen die Drachen sich des alten Unrechts zu erinnern ... Und deshalb kommen die Seelen der Toten jetzt und greifen über die Mauer, weil sie sich zurück nach dem Leben sehnen.«
    Erle stand auf und sagte: »Es ist nicht das Leben, wonach sie sich sehnen. Es ist der Tod. Sie sehnen sich danach, wieder eins mit der Erde zu sein. Wieder in sie zurückzukehren.«
    Alle schauten ihn an, aber er nahm es kaum wahr; sein Bewusstsein war halb bei ihnen, halb im trockenen Land. Das Gras unter seinen Füßen war grün und warm, war tot und kalt. Das Blattwerk der Bäume zitterte über ihm, und die niedrige Steinmauer war nur ein kleines
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