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Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee
Autoren: Ursula K. LeGuin
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herrsche.«
    Brand, der Meister des Gebietens, stand auf, um ihm zu antworten. Nach einigen würdevoll vorgetragenen Höflichkeitsfloskeln, deren Höhepunkt ein spezielles Willkommen für die Hohe Prinzessin war, sprach er: »Dass die Träume der Menschen, und mehr denn ihre Träume, uns warnen vor unheilvollen Veränderungen, darüber sind sich alle Meister und Zauberer von Rok einig. Dass eine Störung der ehernen Grenzen zwischen Tod und Leben vorliegt - in Gestalt von Verletzungen dieser Grenzen sowie der Androhung von noch Schlimmerem -, bestätigen wir. Aber dass diese Störungen, diese Verstöße, von irgendjemand anderem als den Meistern der magischen Kunst verstanden oder verhütet werden können, bezweifeln wir. Und zutiefst bezweifeln wir, dass Drachen, deren Leben und Tod sich gänzlich von denen des Menschen unterscheiden, jemals zugetraut werden kann, dass sie ihren unbändigen Grimm und Neid bezähmen können, um dem Wohl des Menschen zu dienen.«
    »Gebieter«, sagte Lebannen, bevor Irian etwas erwidern konnte: »Orm Embar starb für mich auf Selidor. Kalessin trug mich zu meinem Thron ... Hier in diesem Kreis sind drei Völker vertreten: das kargische, das hardische und das Westvolk.«
    »Sie waren einstmals alle ein Volk«, sagte der Namengeber mit seiner gleichmütigen, tonlosen Stimme.
    »Aber sie sind es jetzt nicht mehr«, entgegnete der Gebieter, jedes Wort einzeln betonend. »Versteht mich nicht falsch, weil ich die harte Wahrheit ausspreche, mein Herr und König! Ich respektiere und akzeptiere den Waffenstillstand, den Ihr mit den Drachen feierlich gelobt und beschworen habt. Wenn die Gefahr, in der wir uns jetzt befinden, vorüber ist, wird Rok Havnor dabei unterstützen, einen dauerhaften Frieden mit den Drachen zu erlangen. Aber die Drachen haben nichts mit dieser Krise zu tun, die über uns schwebt. Und ebenso wenig haben das die Ostvölker, die ihre unsterblichen Seelen verwirkten, als sie die Sprache des Erschaffens vergaßen.«
    »Es eyemra«, sprach eine leise, zischende Stimme: Tehanu, die aufgestanden war.
    Der Gebieter starrte sie an.
    »Unsere Sprache«, wiederholte sie auf Hardisch, sein Starren erwidernd.
    Irian lachte. »Es eyemra«, sagte sie.
    »Ihr seid nicht unsterblich«, sagte Tenar zum Gebieter. Sie hatte nicht vorgehabt zu sprechen. Sie stand nicht auf. Die Worte sprühten aus ihr hervor wie Funken von einem Stein. »Wir sind es! Wir sterben, um wieder in die unsterbliche Welt zurückzukehren. Ihr wart es, die die Unsterblichkeit verwirktet.«
    Plötzlich waren alle still. Der Formgeber hatte eine kleine Bewegung mit den Händen gemacht, eine sanfte Bewegung.
    Sein Gesichtsausdruck war geistesabwesend, unbekümmert, während er ein Muster aus Zweigen und Blättern betrachtete, das er auf dem Gras ausgelegt hatte, wo er saß, direkt vor seinen übereinander geschlagenen Beinen. Er blickte auf, schaute einen nach dem anderen an. »Ich glaube, wir werden bald dorthin gehen müssen«, sagte er.
    Nach einem weiteren Augenblick des Schweigens fragte Lebannen: »Wohin, mein Herr?«
    »Ins Dunkel«, sagte der Formgeber.
     
    Während Erle dasaß und ihnen lauschte, wurden die Stimmen allmählich leise, verhallten, und das warme Sonnenlicht des Spätsommers schwand zur Dunkelheit. Nichts war übrig geblieben außer den Bäumen: hohe, blinde Präsenzen zwischen der blinden Erde und dem Himmel. Die ältesten lebenden Kinder der Erde. O Segoy , sagte er in seinem Herzen: Geschaffener und Schöpfer, lass mich zu dir kommen.
    Die Dunkelheit zog immer weiter, an den Bäumen vorbei, vorbei an allem.
    Vor dieser Leere sah er den Hügel, den hohen Hügel, der zu ihrer Rechten gestanden hatte, als sie aus der Stadt heraufgekommen waren. Er sah den Staub des Weges, den Staub des Pfades, der an jenem Hügel vorbeiführte.
    Er bog nun von diesem Pfad ab, ließ die anderen zurück und stieg den Hang hinauf.
    Die Gräser waren hoch. Die leeren, verbrauchten Blütenkörbe von Funkenkraut nickten zwischen ihnen. Er kam auf einen schmalen Pfad und folgte ihm den steilen Hang des Hügels hinauf. Jetzt bin ich ich selbst, sagte er in seinem Herzen. Segoy, die Welt ist wunderschön. Lass mich durch sie zu dir kommen.
    Ich kann wieder das, wozu ich bestimmt bin, dachte er, während er ging. Ich kann heilen, was zerbrochen war. Ich kann wieder zusammenfügen.
    Er erreichte die Kuppe des Hügels. Und wie er dort droben in der Sonne und im Wind zwischen den nickenden Gräsern stand, sah er zu seiner
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