Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
es ward nicht geboren. Es nahm sie mit.«
    Nach einer Weile sagte er: »Wir hatten große Freude geteilt.«
    »Das sehe ich.«
    »Und mein Kummer war dementsprechend groß.«
    Der alte Mann nickte.
    »Ich konnte ihn ertragen«, sagte Erle. »Ihr wisst, wie das ist. Ich sah nicht viel Grund zu leben, aber ich konnte den Kummer ertragen.«
    »Ja.«
    »Doch dann, im Winter, zwei Monde nach ihrem Tod ... Da hatte ich einen Traum. Und sie kam in dem Traum vor.«
    »Erzähl ihn mir.«
    »Ich stand auf einem Hang. Entlang der Kuppe des Hügels und den Hang hinunter verlief eine Mauer, eine niedrige Mauer, wie eine Begrenzungsmauer zwischen Schafweiden. Sie stand auf der anderen Seite der Mauer, der dem Hang zugewandten. Dort war es dunkler.«
    Sperber nickte einmal. Sein Antlitz war zu Stein erstarrt.
    »Sie rief mich. Ich hörte, wie ihre Stimme meinen Namen sang, und ich ging zu ihr. Ich wusste, dass sie tot war, ich wusste es auch in dem Traum, aber ich war froh, dass ich zu ihr durfte. Ich konnte sie nicht klar erkennen, und ich ging zu ihr, um sie zu sehen, um bei ihr zu sein. Und sie streckte die Hand über die Mauer. Die Mauer war nicht höher als mein Herz. Ich hatte gedacht, sie hätte vielleicht das Kind bei sich, aber sie war allein. Sie streckte mir beide Hände entgegen, und ich ergriff sie, und wir hielten uns bei den Händen.«
    »Ihr berührtet euch?«
    »Ich wollte zu ihr gehen, aber ich konnte nicht über die Mauer steigen. Meine Beine wollten sich nicht bewegen. Darauf versuchte ich, sie zu mir zu ziehen, und sie wollte auch kommen; fast schien es, als könnte es ihr gelingen, aber die Mauer stand zwischen uns. Wir konnten sie nicht überwinden. Also beugte sie sich zu mir herüber und küsste mich auf den Mund und sprach meinen Namen. Und sie bat: >Befreie mich!<
    Ich dachte, dass ich sie vielleicht befreien könnte, wenn ich sie bei ihrem wahren Namen nennen würde, und sprach: »Komm mit mir, Mevre!< Aber sie sagte nur: >Das ist nicht mein Name, Hara, das ist nicht mehr mein Name.< Und sie ließ meine Hände los, wiewohl ich sie festzuhalten versuchte. Sie rief: >Befreie mich, Hara!< Aber sie entschwand hinunter ins Dunkel. Es war gänzlich dunkel auf jenem Hange unterhalb der Mauer. Ich rief sie bei ihrem Namen und ihrem Gebrauchsnamen und all den teuren Namen, die ich für sie gehabt hatte, aber sie ging weiter und fort. Und dann erwachte ich.«
    Sperber starrte seinen Besucher lange und eindringlich an. »Du hast mir deinen Namen gegeben, Hara«, sagte er.
    Erle schaute ein wenig bestürzt drein und holte mehrmals tief Luft, doch dann blickte er mit trostlosem Mut auf. »Wem könnte ich ihn besser anvertrauen?«, fragte er.
    Sperber dankte ihm feierlich. »Ich werde versuchen, mich deines Vertrauens als würdig zu erweisen«, versicherte er. »Sag, weißt du, was dieser Ort ist - diese Mauer?«
    »Damals wusste ich es nicht. Jetzt weiß ich, dass Ihr sie überquert habt.«
    »Ja. Ich war auf jenem Hügel. Und überquerte die Mauer, mittels der Macht und der Kunst, die ich einmal besaß. Und ich bin hinuntergestiegen zu den Städten der Toten und habe mit Männern gesprochen, die ich lebend gekannt hatte, und manchmal haben sie mir geantwortet. Doch du, Hara, bist der erste Mann unter all den großen Magiern in der Lehre von Rok oder Paln oder Enlad, von dem ich je gehört habe, der seine Liebste über diese Mauer hinweg geküsst oder berührt hat.«
    Erle saß da mit gesenktem Haupt, die Hände zu Fäusten geballt.
    »Sag: wie war ihre Berührung? Waren ihre Hände warm? War sie kalte Luft und Schatten oder wie ein lebendiges Weib? Verzeih mir meine Fragen.«
    »Ich wünschte, ich könnte sie beantworten, Herr. Der Gerichtsbote auf Rok fragte mich das Gleiche. Aber ich kann nicht wahrhaftig antworten. Meine Sehnsucht nach ihr war so groß, ich wünschte sie mir so sehr - es könnte gut sein, dass ich einfach hoffte, dass sie so sei, wie sie es im Leben gewesen war. Aber ich weiß es nicht. Im Traum sind die Dinge nicht immer klar.«
    »Im Traum nicht. Aber ich habe noch nie gehört, dass irgendein Mann im Traum zu der Mauer gekommen ist. Es ist ein Ort, zu dem vielleicht ein Zauberer streben mag, so er muss, so er den Weg gelernt hat und die Macht besitzt. Aber ohne das Wissen und die Macht kann nur der Sterbende ...«
    Er verstummte. Er dachte an seinen Traum in der Nacht zuvor.
    »Ich hielt es für einen Traum«, sagte Erle. »Er plagte mich, aber ich schätzte ihn und hielt an ihm fest. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher