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Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)

Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)

Titel: Der Erbe von Sean Garraí (Das Kleeblatt)
Autoren: Hansi Hartwig
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dass nach den vielen Wochen, die er ans Krankenbett gefesselt zugebracht hatte, seine Kräfte noch nicht wiederhergestellt waren.
    Und sie w erden es auch nie wieder sein! Wann endlich willst du das begreifen?
    Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus war er in seiner Verzweiflung von einem Arzt zum anderen gerannt, die besten Spezialisten hatte er konsultiert. Doch durch die Bank weg hatten sie ihm das letzte bisschen Hoffnung geraubt, dass er sich eines Tages wieder bewegen könnte wie vor dem Unfall. Er würde auf ewig ein Krüppel sein! Nie mehr zur See fahren können!
    Dagegen erschien ihm das andere Problem, auf das ihn seine Ärzte zögerlich vorbereitet hatten, wie ein lächerlicher Fliegenschiss.
    Seine Schritte wurden schneller, dann rannte er, bis er nicht mehr weiter konnte. Nach Atem ringend blieb er stehen. Ein stechender Schmerz in seinem Bein ließ ihn mit einem verzweifelten Aufschrei zu Boden sinken. Er legte den Kopf auf das angewinkelte rechte Knie und wiegte sich vor und zurück. Die Leere in ihm war qualvoller als jede Wunde, die ihm jemals zugefügt worden war. Wut und Trauer und die tief in seinem Herzen vergrabenen Erinnerungen fochten einen erbitterten Kampf mit seiner Beherrschung, die mehr und mehr zu bröckeln begann und schließlich von seinen Tränen weggeschwemmt wurde. Er versuchte nicht, sie aufzuhalten. Es war zu lange her, dass er sich gestattet hatte, die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren. Er wollte sich nicht länger beherrschen müssen. Nur dieses eine Mal nicht.
     
    Er schreckte auf, als sich jemand diskret neben ihm räusperte. Peinlich berührt wischte er den Beweis seines Kummers von den Wangen und erhob sich umständlich. Er musste die Zähne aufeinanderbeißen, um vor Schmerz nicht aufzuschreien, während er vorsichtig sein Knie streckte, das für einen Moment völlig steif war. Sein Blick fiel auf eine weibliche Gestalt, die auf der anderen Seite des Steinkreuzes saß.
    „Was machen Sie hier?“ Obwohl seine Stimme bar jeglicher Emotion war, verriet ihn das zornige Funkeln in seinen dunklen Augen. Er wollte alleine sein. Niemand sollte sehen, dass er sich seinen Empfindungen hingegeben hatte.
    „Wer sind Sie?“ Jetzt sprach er im Befehlston, gerade so als sei er es gewohnt, seinen Willen durchzusetzen. Und Antworten auf seine Fragen stets dann zu bekommen, wenn er es verlangte. Und doch passte sie zu ihm. Sie war tief und vibrierte vor kaum gezügelter Kraft.
    Noch immer sagte die Frau keinen Ton, sondern ließ lediglich ihr Buch sinken. Er machte einen Schritt auf sie zu und bemerkte irritiert, wie sie zusammenzuckte. War er tatsächlich derart Furcht einflößend, wie man behauptete? Nun, schließlich hatte er sich nicht umsonst in der Reederei den Ruf eines überheblichen Widerlings erarbeitet – und zwar in Sonderschichten. Wenn er es recht bedachte, hätte er sogar mühelos ein Dutzend Schiffsoffiziere benennen können, die es rundweg ablehnen würden, mit ihm ein zweites Mal an Bord desselben Schiffes zu fahren – von den Maschinisten ganz zu schweigen.
    Er fuhr sich durch sein zerzaustes Haar. Und wenn schon! Er hatte es sich zum Lebensmotto gemacht, zu niemandem nett zu sein. Denn so war im Gegenzug auch niemand gezwungen, ihm mit Freundlichkeit zu begegnen, was ihn wiederum dazu hätte verleiten können, sein Inneres zu öffnen.
    „ Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?“, erkundigte er sich ungerührt.
    Ja , dachte sie einigermaßen irritiert.
    S eine Augen verengten sich vor Argwohn. „Sind Sie taub?“, fügte er dann etwas vorsichtiger hinzu, denn man konnte ja nie wissen.
    Sie straffte ihre schmalen Schultern und hob langsam den Kopf. Ihm stockte der Atem, als ihn ihr Blick wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel traf. Er hatte das Gefühl, in dieser Sekunde hätte selbst der Wind aus Ehrfurcht aufgehört zu wehen. Eine solche Schönheit war ihm nie zuvor begegnet! Er war bis in die Tiefen seiner Seele erschüttert. Ihre Augen leuchteten wie Türkise. Dichtes, kastanienbraunes Haar umrahmte das schmale Gesicht mit den hohen Wangenknochen, dem fein geschwungenen Mund und einem überaus eigenwilligen Kinn. Ihre Haut hatte nicht die blasse Farbe der Iren, sodass er nicht gleich die zarte Röte bemerkte, die sich bei seiner eindringlichen Musterung auf ihre Wangen schlich.
    „S -Sie … Sie befinden sich auf meinem … auf … privatem Grund und Boden.“
    Er spürte, wie sich sein Herz vor Aufregung regelrecht überschlug, und fluchte leise.
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