Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
Zweifel, das war unverkennbar Mary Winsloves be-rüchtigter schwarzer Kaffee, dafür bekannt, selbst Tote wieder aufzuwecken oder Lebende umzubringen, je nachdem.
    Aber das war doch unmöglich! Ich war doch nicht verrückt
    oder?
    Einen Moment lang zog ich auch diese Möglichkeit ganz ernsthaft in Betracht, verwarf sie aber schon nach ein paar Sekunden wieder. Ich hatte zwar keine persönlichen Erfahrungen mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen, aber eines wußte ich genau das hier war nichts dergleichen. Und es war auch keine Fortsetzung meines Alptraumes. Dazu war alles einfach eine Spur zu realistisch. Nein hier ging etwas anderes vor.
    Und ich würde herausbekommen, was. Jetzt. Auf der Stelle.

    Und wenn ich die Wahrheit aus meinem Großvater heraus-schütteln mußte diesmal würde er mir nicht mehr mit irgendwelchen Ausflüchten davonkommen.
    Entschlossen kickte ich die Scherben der Kaffeetasse unter die Anrichte, stürmte aus der Küche und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, in die erste Etage hinauf, wo das Schlafzimmer meines Großvaters lag. Als ich es erreicht hatte, hatte sich meine Verärgerung zu einer ausgewachsenen Wut entwickelt. Zornig ballte ich die Faust, um damit gegen die Tür zu hämmern.
    Aber ich tat es nicht.
    Auf der anderen Seite der Tür war es nicht still. Aus dem Zimmer drangen Geräusche, und es dauerte diesmal nur einen Augenblick, bis ich sie identifizierte: Weinen.
    Das leise, krampfhafte Weinen meines Großvaters.
    Ich blieb fast zehn Minuten vor der Tür stehen und hörte seinem Schluchzen zu, und ich kämpfte in jeder einzelnen Sekunde dieser zehn Minuten mit mir, doch noch anzuklopfen und hineinzugehen. Aber ich tat es nicht. Es gibt gewisse Dinge, die selbst ich respektiere.
    So leise ich konnte, ging ich in mein Zimmer zurück. Aber ich fand keinen Schlaf in dieser Nacht. Und eigentlich war ich fast froh darüber, denn ich war ziemlich sicher, daß ich keine angenehmen Träume gehabt hätte.
    Am nächsten Morgen verhalf ich Mary Winslove um ein Haar zu einem Herzanfall zumindest dem Gesichtsausdruck nach zu schließen, mit dem sie mich anstarrte, als ich die Treppe hinunterkam und ins Arbeitszimmer marschierte. Was aber an sich kein Wunder war, denn sie mußte mich entweder für ein Gespenst oder für todkrank halten: Schließlich war es noch nicht einmal acht Uhr, und das Hauspersonal kannte meine Vorliebe für langes und ausgiebiges Ausschlafen nur zu gut. Ich habe es nie verstanden, wie ein normaler, gesunder Christenmensch es fertigbringt, vor der Mittagsstunde aus dem Bett zu steigen; ebensowenig, wie ich je einen Hehl daraus gemacht habe, daß ich Störungen vor elf Uhr vormittags als vorsätzliche Körperverletzung empfinde. Mary jedenfalls schien für einen Moment an ihrem Verstand zu zweifeln, als sie mich angezogen und frisch rasiert die Treppe herunterkommen sah. Sie antwortete nicht einmal, als ich ihr ein fröhliches »Guten Morgen« zurief und ihr beschied, mir das Frühstück im Arbeitszimmer meines Großvaters aufzutragen.
    Ganz echt war meine Fröhlichkeit allerdings nicht. Ich war alles andere als ausgeschlafen und hatte auch nicht viel Grund, guter Dinge zu sein. Doch jetzt, im ersten Licht des neuen Tages, sahen die Dinge schon nicht mehr ganz so unheimlich und bedrohlich aus wie gestern abend. Ich war sicher, daß sich eine Erklärung finden würde.
    Während der Nacht hatte sich auch Merlin wieder zu mir gesellt, der mir nun treu wie ein Hund folgte allerdings ließ er sich noch immer nur mit deutlichem Vorbehalt streicheln, und mein erster und einziger Versuch, sein Fell wenigstens halbwegs zu säubern, hatte mir einen gehörigen Kratzer auf der Hand eingetragen. Ich konnte ihm seine Reserviertheit nicht einmal übelnehmen. Zwar war ich nach Mary, die das Futter verwaltete, sein zweitbester Freund, aber umgekehrt hätte ich einem Kater auch mißtraut, in dessen Nähe sich plötzlich solch sonderbare Dinge ereigneten wie in meiner, ganz egal, wie lange ich ihn kannte. Immerhin gestattete er mir, ihm ein Schälchen Büchsenmilch zu kredenzen, nachdem Mary das Frühstück aufgetragen hatte, und als ich rücksichtsvollerweise so tat, als sehe ich es nicht, schleckte er sie auch gierig auf.
    Merlin war mit der dritten Untertasse Büchsenmilch beschäftigt, als mein Großvater hereinkam, korrekt angezogen wie immer, aber noch immer ein bißchen blaß. Er schien kein bißchen überrascht zu sein, mich als Frühstücksgast zu erblik-ken, sondern
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher