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Der Engel auf der Fensterbank

Der Engel auf der Fensterbank

Titel: Der Engel auf der Fensterbank
Autoren: J. Walther
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könntest mir Aspirin aus der Apotheke holen, Geld liegt auf dem Tisch.”
    „Natürlich, sofort, ich beeile mich”, sagte Michael.
    „Aspirin, Aspirin, Aspirin …”, murmelte er vor sich hin, während er über die Dächer flog. Er stürmte in die Apotheke, verlangte Aspirin als handele es sich um eine Blutvergiftung, legte zwanzig Euro auf den Tresen und stürmte wieder hinaus.
    „Bist du geflogen?”, fragte Jonathan, als er wieder zurück kam.
    „Ja.”
    Jonathan wusste nicht so recht, was er mit dem aufgeregten jungen Mann anfangen sollte, der ihn erwartungsvoll anschaute. „Möchtest du etwas trinken? Bier steht im Kühlschrank.”
    Der Engel wusste nicht, was Bier ist, eigentlich hatte er noch nie etwas getrunken, nicht einmal Wasser, doch er war bereit, jedes Risiko einzugehen. So wagemutig wie an diesem Tag hatte er sich in seinem ganzen Dasein noch nicht gefühlt. „Wo ist der, äh, Kühlschrank?”, Michael kannte natürlich auch diese segensreiche Erfindung nicht. Jonathan kam in die Küche und öffnete die Kühlschranktür.
    „Ist das aber kalt“, staunte Michael, “vielleicht bist du davon krank geworden.”
    Gott, ist der bescheuert, dachte Jonathan, dabei ist er wirklich attraktiv. Sein Gesicht ist hübsch, aber eigenartig nichtssagend.
    Jonathan goss Michael ein Glas Bier ein, das dieser mit zweifelnder Miene probierte. Engel haben eigentlich keinen Geschmackssinn, aber Michael fand das Gefühl des kühlen Bieres in seiner Kehle aufregend. Er leerte in Windeseile die ganze Flasche, was seine Wirkung nicht verfehlte. Michael vergaß seine übliche Zurückhaltung, plauderte, umsorgte Jonathan auf der Couch, schwirrte durch die Räume und lachte alle fünf Minuten. Das war besonders erstaunlich, da Michael das Lachen noch gar nicht kannte und Engel für gewöhnlich nicht lachen, höchstens wissend und milde lächeln.
    Jonathan fühlte sich bald etwasbesser, und dies brachte eine Erkenntnis in sein Bewusstsein. “Du kannst gar nicht hier wohnen.”
    “Ich wohne oben … weit oben.” Der Engel lächelte selig, was etwas dümmlich aussah.
    “Bei mir gibt’s nichts zu klauen!”
    “Ich, oh …”, der Engel schwankte und eine Träne lief ihm über die Wange, er war nicht mehr recht Herr seiner selbst, “… ich wollte dich nur kennen lernen. Es ist manchmal ziemlich einsam auf der Fensterbank!” Ein kindlicher Schluchzer entrann seiner Kehle. Der Engel schlug die Hände vors Gesicht und sank höchst malerisch auf die Knie, wobei sich seine Flügel zur Sichtbarkeit entfalteten. Seine Selbstkontrolle hatte ziemlich gelitten.
    Jonathan schaute auf das zusammengesunkene, von prächtigen weißen Flügeln überspannte Häufchen auf seinem Teppich. Dann ließ er sich stöhnend zurück aufs Kissen fallen und fühlte seine Stirn und seinen Puls. Schließlich griff er zum Fieberthermometer, aber seine Temperatur war leicht gesunken. So schloss er einfach die Augen, in der Hoffnung, beim Öffnen keinen Engel mehr auf dem Wohnzimmerteppich vorzufinden.
    Doch als er es wagte, die Lider wieder zu öffnen, saß der Engel immer noch auf dem Teppich. Jonathan räusperte sich und formte mühsam Worte in seinem Mund: ”Bist du das, was ich zu sehen glaube?”
    “Sehen und glauben sind bei Menschen höchst trügerische Dinge.” Diesen Satz hatte Michael bei einem Schutzengel aufgeschnappt und er fand die Bemerkung mächtig geistreich, bevor sich sein Geist wieder umwölkte. Er versuchte aufzustehen und zu einem Sessel zu gehen. Dochauch die Koordination des Engels hatte etwas gelitten, zumal er nur selten lief, und so stolperte er über das Muster im Teppich. Er raffte sich mit ein paar Flügelschlägen wieder auf und kam auf der Rückenlehne des Sessels zu sitzen. Von dort stürzte er mit einem glucksenden Lachen nach hinten und blieb auf dem Sessel liegen, die Beine über der Armlehne, halb in seine eigenen Flügel eingewickelt. Nach einigen weiteren Lachern kam er zur Ruhe und schloss die Augen. Man konnte nicht direkt behaupten, dass Michael schlief, denn Engel kennen keinen Schlaf. Aber der Alkohol hatte ihn in einen Zustand versetzt, der es ihm himmlisch erscheinen ließ, einfach nur da zu liegen.
    Jonathan war zu erschöpft und müde, um sich weiter Gedanken über den Engel auf seinem Sessel zu machen und ging in sein Bett. Dann ist er eben ein Engel, Hauptsache er ist da, dachte Jonathan im Einschlafen. Und obwohl ein leibhaftiger, betrunkener Engel im Nebenzimmer ruhte, schlief er lange und
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