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Der Eiserne König

Der Eiserne König

Titel: Der Eiserne König
Autoren: John Henry Eagle
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sondern Holz und Ried. Trotzdem loderte Panik in ihm wie das grüne Feuer, in dem seine Kameraden verbrannt waren, und vor seinem inneren Auge blitzten Bilder auf: Der tiefe Wald; die Käfigstreu; die Gitterstäbe; die Hexe, die Gebratenes und Gesottenes durch die Klappe schob; seine abgestumpfte Schwester, die Holz und Wasser in die Hütte schleppte; der Hühnerknochen, dünn und fein, den er der Hexe hinhielt.
    Der Wind kühlte seine heiße Stirn, aber die Angst verflog nicht. Als er sich nach der Alten umdrehte, saß diese noch am Kamin. Sie winkte ihm mit einem krummen Finger.
    »Komm rein, Junge«, sagte sie. »Ich habe dich sieben Tage gepflegt. Willst du an Fieber sterben?« Sie nahm einen Stock, dessen Griff die Form eines Schlangenkopfes hatte, und stand auf. »Iss etwas Suppe. Das wird dir guttun.«
    Hans rang seine Angst nieder. »Gepflegt?«, murmelte er. »Sieben Tage?«
    Die Alte nahm einen Holzlöffel und schöpfte Suppe in eine Schale, die sie neben das Strohlager stellte. »Warum willst du weglaufen?«, fragte sie. »Befürchtest du, zu verbrennen? Wie deine Spießgesellen?«
    »Woher weißt du das?«, fragte Hans und wankte zu seinem Lager. Das Stroh raschelte, als er sich darauf niederließ.
    »Ich habe Kräuter gesucht, aber gefunden habe ich Leichen. Du lagst wie tot bei der Furt, mein Junge. Dort habe ich dich aufgesammelt.« Sie stopfte eine Pfeife. »Ich bin die Muhme. Die Hüterin des Holunderhains.«
    Hans griff nach der Schale. »Ich habe Angst vor Enge, denn als Kind hat mich im Lohwald eine Hexe eingesperrt, um mich zu mästen und später zu fressen«, erzählte er und sah sich furchtsam in der kleinen Kate um. »Meine Schwester hat mich gerettet.«
    »In Flutwidde gibt es keine Hexen«, erwiderte die Muhme.
    »Als Räuber war ich immer im Freien. Das hat mir gefallen – keine Wände, keine Türen, keine Riegel.« Er aß einen Löffel Suppe. »Hmm … Hühnerbrühe«, sagte er mit vollem Mund.
    Die Muhme füllte ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit. »Bist du damals nicht zu deinen Eltern zurückgekehrt?«, fragte sie.
    »Sie hatten uns im Wald ausgesetzt«, antwortete Hans sowohl zornig als auch bedrückt. »Ich hasse sie. Inzwischen sind sie tot, und ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.«
    »Aus der Hexe?«
    »Nein, aus meiner Schwester. Die Hexe ist verbrannt.«
    Die Muhme nahm die Pfeife aus dem Mund und spuckte in die Glut. »Auch verbrannt?«, fragte sie. Dann gab sie ihm das Glas. »Holunderschnaps. Damit wirst du hundert Jahre alt.« Sie zwinkerte ihm zu.
    Hans trank den Schnaps, aß die Hühnerbrühe, deckte sich mit dem Fell zu und schlief wieder ein.
    Am nächsten Morgen ging es ihm besser. Er hatte von dem Mädchen mit den grünen Augen und dem rätselhaften Muster auf dem Rücken geträumt. Da er nicht verstand, was passiert war, beschloss er, der Muhme alles zu berichten.
    Die Muhme saß draußen auf einer Bank in der Sonne, rauchte eine Pfeife und betrachtete die Holunderbüsche. Im Gras des Hains tanzten Blätterschatten und Sonnenflecke. Als Hans neben ihr Platz nahm, erklärte sie: »Der Holunder ist heilig. Er darf weder gefällt noch verfeuert werden. Ich bin seine Hüterin, ein Amt, das in unserer Familie seit Generationen von einer Frau zu anderen weitergegeben wurde. Leider bin ich die Letzte, denn ich habe keine Nachkommen.«
    »Mein Vater hielt Holunder für Unkraut«, sagte Hans, der in seinen Schoß starrte.
    Die Muhme wandte ihm das von der Haube umschlossene Gesicht zu und fragte: »Hast du etwas auf dem Herzen?«
    Hans gab sich einen Ruck und berichtete von dem Mädchen. Bei der Erwähnung des Musters auf dem Rücken horchte die Muhme auf. »Und das arme Ding hat nichts gesagt?«, fragte sie.
    »Kein Wort. Sie hat nicht einmal geschrien.«
    »Keine Anzeichen von Angst?«
    Hans überlegte. »Sie war die Ruhe selbst«, sagte er dann.
    Die Muhme nahm ihren Stock und ging in die Kate.
    Hans folgte ihr. Er sah, wie sie ein Buch aus dem Regal zog und auf ein Stehpult wuchtete. Sie blätterte in den ledrigen Seiten. Dann sagte sie: »Ein Schafhirte, der mit seiner Herde vorbeizog, hat mir kürzlich von diesem Mädchen erzählt. Sie hat einem Krüppel das fehlende Bein herbeigezaubert, einer Magd, die den Stallknecht heiraten wollte, einen Liebestrank gebraut und ein Geschwisterpaar gerettet, das von Irrlichtern auf den Unkengrund gelockt worden war. Sie vollbringt viele gute Taten.«
    »Meine Kameraden sind in ihrem Feuer verbrannt«, sagte Hans mit einem
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