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Der Eiserne König

Der Eiserne König

Titel: Der Eiserne König
Autoren: John Henry Eagle
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die Gografen. Sie werden uns helfen.« Sie schnürte ihr Bündel, nahm ihren Stock und trat aus der Tür in den hellen Tag.
    Hans sah einen Wisentschädel an, der seinen Blick aus leeren Augenhöhlen erwiderte. Ihm schwirrte der Kopf – was sollte er tun? Schließlich schnallte er das Schwert um, nahm den Mantel und folgte der Muhme. Er hatte in seinem Leben wenig Zuneigung und noch weniger Liebe erfahren, und nach dem Verschwinden seiner Schwester und dem Tod Grimms und seiner Kameraden war die Muhme der einzige Mensch, den er noch hatte; sie hatte ihn gepflegt, und sie schien Anteil an seinem Schicksal zu nehmen. Als er sich draußen noch einmal umdrehte, sah er unzählige Katzen, die vor der Kate saßen und zum Abschied maunzten.
    »Das sind meine treuen Wächter«, rief die Muhme, die den Holunderhain schon hinter sich gelassen hatte.
    Hans beeilte sich, sie einzuholen.

2. Die dreizehn weisen Weiber
    Sie wanderten nach Süden, in das Herz von Flutwidde. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, aber das Getreide war nicht geernet worden. Auf Gehöften brüllten Kühe, denen die Euter platzten. Pflaumen verfaulten, wo sie hinfielen. Schafe und Ziegen fraßen Blumen in den Gärten, Esel und Schweine taten sich an Äpfeln gütlich. Kein Mensch war bei der Arbeit. Manchmal begegneten sie verwahrlosten Kindern, die ihnen eine lange Nase zeigten, und einmal trabte ein abgemagerter Ackergaul vorbei, der sich verirrt zu haben schien. Am verstörendsten war, dass Laub, ja sogar Gras vor der Zeit grau wurden – und Grau war nicht einmal die Farbe des Herbstes.
    »Das hier war die Kornkammer Pinafors«, sagte die Muhme. »Sieh dir an, was daraus geworden ist, seit es Gold wie Heu gibt. Das Einzige, was noch in Betrieb ist, sind die Destillen, die Kartoffelschnaps brennen.«
    Hans merkte zum ersten Mal, wie schlecht es um Pinafor stand. Als Räuber hatte ihn all das nicht interessiert. Die Kinder erschreckten ihn; wenn sie Grimassen schnitten oder fluchten, zuckte er zurück.
    Am Morgen des zweiten Tages kam ein Hügel in Sicht, der wie vom Himmel gefallen auf dem Flachland aufragte. »Das ist der Wolkenberg. Dort sind die dreizehn weisen Weiber zu Hause«, sagte die Muhme. »Am Nachmittag sind wir da.«
    Gegen Mittag war auf dem Hügel ein Haus zu erkennen.
    »Das Haus wirkt winzig«, sagte Hans. »Wie können dreizehn Frauen samt Gesinde darin wohnen?«
    Die Muhme grinste ihn an, die Pfeife fest zwischen die Zähne geklemmt.
    Am Nachmittag folgten sie einem gewundenen Pfad auf den Hügel. Hier wuchsen nur Ginster, Farn und Moos. Manchmal stießen sie auf Stelen, die mit verschlungenen Mustern und Bildern von Wesen verziert waren, in denen sich Mensch und Tier mischten.
    »Manche sagen, dass alle Lebewesen so aussahen, bevor sich der Mensch über die Tiere erhob und schied, was ursprünglich eins gewesen war.« Die Muhme zeigte auf ein Geschöpf, das einer menschlichen Kröte glich. »Andere meinen, dass diese Bilder die Wesen der Wilden Jagd zeigen – Ungeheuer, die von der Esche gebannt werden –, die bösen Geschwister der Ragnarökk.«
    »Ja, ich weiß«, sagte Hans und lachte. »Grimm hat am Feuer solche Geschichten erzählt, um Neulingen Angst einzujagen. Alles Legenden. Und das unsichtbare Volk der Ragnarökk ist auch nur ein Ammenmärchen.«
    Die Muhme zog eine Augenbraue hoch.
    Auf der Hügelkuppe kam Hans aus dem Staunen nicht mehr heraus: Ringsumher erstreckten sich Felder, Rauch flatterte aus Schornsteinen, Wolkenschatten glitten über das Land, Vögel zogen am Himmel dahin. »Wie herrlich«, flüsterte er.
    »Oh, gewiss«, sagte die Muhme spitz. »Aus der Ferne wirkt jeder Apfel rund und schön, auch wenn er einen faulen Kern hat.«
    Das Haus der dreizehn weisen Weiber, ein Fachwerkbau mit weiß getünchten Fächern und Schieferdach, war fensterlos und kleiner als die Kate der Muhme, und die Eichentür hatte weder Knauf noch Klinke. Als die Muhme mit ihrem Stock dagegen klopfte, ertönte kein Laut; es war, als wäre die Tür aus Watte. Hans, der das unheimlich fand, griff nach seinem Schwert.
    Während sie warteten, dass jemand öffnete, aß die Muhme einen Kanten Brot und trank von ihrem Schnaps. Hans sah sie fragend an, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Am späteren Nachmittag wurde endlich geöffnet. Hans, der sich gegen die Tür gelehnt hatte, wäre fast ins Haus gefallen, aber die Muhme hielt ihn fest. Im nächsten Moment reckte ihm ein Diener ein Schwert entgegen, dessen Klinge der Schulter zu
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