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Der einzige Sieg

Der einzige Sieg

Titel: Der einzige Sieg
Autoren: Jan Guillou
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Hinterlauf hoch, als hätte er eine Beinverletzung oder schwere Bauchschmerzen. Er sah sehr menschlich aus.
    Als das verletzte Tier den äußersten Rand der Äsung erreicht hatte, wurde es von den anderen entdeckt. Der größte Hirsch ging sofort zum Angriff über. Das verletzte Tier versuchte zu fliehen, lief aber zu unbeholfen, um entkommen zu können, und wurde von den anderen heftig gestoßen, zunächst von dem größten und dann sogar von dem kleinsten Hirsch, dessen noch unentwickeltes spitzes Geweih dem ausgegrenzten Tier den Bauch aufriß. Es zog sich dann mit größter Mühe in den Wald zurück.
    Dieser Anblick riß Carl aus seinen Grübeleien. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging mit entschlossenen Schritten zum Hof zurück. Die drei Hirsche draußen auf dem Feld hörten ihn sofort und flüchteten mit langen, eleganten Sprüngen in den Wald.
    Als Carl gerade den Türgriff der Haustür berührte, wurde diese von innen geöffnet, und Åke Stålhandske kam heraus. Er war genauso gekleidet wie Carl.
    »Vielen Dank für das Weihnachtsfest und alles Gute für die Zukunft«, sagte Åke, als er seine Verblüffung überwunden hatte.
    »Oh, ich bedanke mich auch«, erwiderte Carl zögernd.
    »Schlafen Anna und Tessie noch?«
    »Ja, ich glaube schon. Ich brauche etwas frische Luft.«
    »Gut«, sagte Carl. »Warte hier, ich bin gleich wieder da.«
    Er lief in den Keller und schloß einen seiner Waffenschränke auf. Er entnahm ihm zwei passende Gewehre, riß eine Schachtel mit Munition an sich und ging mit langen Schritten die Treppe hinauf. Åke Stålhandske wartete unruhig auf ihn; er hatte sich wohl vorgestellt, allein Spazierengehen zu können.
    »Hier«, sagte Carl, »nimm das hier. Wir haben etwas zu erledigen!«
    Er warf Åke Stålhandske ein Gewehr mit Zielfernrohr zu. Dieser fing es mit einer Grimasse des Ekels auf, blieb wie versteinert stehen und betrachtete die Waffe, die er in den Händen hielt.
    »Es geht um einen Hirsch, einen verletzten Hirsch«, erklärte Carl sachlich, als wäre es nichts Besonderes, obwohl er sehr wohl Zeit gehabt hatte, Åke Stålhandskes Gesichtsausdruck wahrzunehmen. Dieser erwiderte nichts, warf das Gewehr mechanisch über die Schulter und ging hinter Carl her, der sich schon in Bewegung gesetzt hatte.
    Sie schwiegen, bis sie das Gehege erreicht hatten.
    »Ein Mord aus Barmherzigkeit also«, sagte Åke Stålhandske tonlos.
    »Nun ja, es ist schon ein Mord aus Barmherzigkeit«, erwiderte Carl mit einem Versuch, Åke Stålhandskes finnlandschwedischen Tonfall nachzuahmen. Ihm ging sofort auf, daß das kein gelungener Einfall war. Sie gingen schweigend Seite an Seite bis zu der Tannenschonung, an der Carl gestanden hatte. Dort blieb Carl unentschlossen stehen. Der schweigende Kamerad stand hinter ihm.
    »Ich habe vorhin hier einen Hirsch gesehen, der schwer verletzt war. Wir müssen versuchen, ihm den Gnadenschuß zu geben«, sagte Carl weich.
    »Den Gnadenschuß geben«, sagte Åke Stålhandske mit einem sarkastischen Tonfall, der nicht mißzuverstehen war. »Das ist doch eine euphemistische Umschreibung dafür, daß wir den armen Teufel ermorden sollen?«
    »Nein«, entgegnete Carl behutsam, »das ist ein Jägerbegriff und bedeutet, daß wir ein verletztes Tier töten müssen, um seine Leiden abzukürzen. Wenn wir ihn jetzt nicht zu töten versuchen, wird er erst in einer Woche sterben und sich bis dahin entsetzlich quälen.«
    Carl blickte kurz zur Seite. Er erkannte Åke Stålhandske nicht wieder. Der Mann hatte noch nie so ausgesehen, doch es fiel Carl nicht schwer, die Gründe zu verstehen. Åke war aus dem gleichen Grund wie er aus seinem Bett geflüchtet, um an die frische Luft zu kommen. Carl blieb noch eine Zeitlang schweigend stehen und wartete darauf, daß er noch etwas sagte.
    »Und was sollen wir mit den tierischen Geweberesten anfangen?« fragte Åke Stålhandske schließlich.
    »Das Tier häuten, zerlegen und aufessen«, erwiderte Carl mit zusammengebissenen Zähnen und abgewandtem Blick.
    Dann drehte er sich um und sah seinem Freund, seinem neuerdings sehr engen Freund, in die Augen.
    »Nun sag schon, Åke, was ist es? Alpträume?«
    »Ja, das könnte man sagen.«
    »Du siehst es noch vor dir, das Feuer und die Motorsäge und all das?«
    »Ja.«
    »Und du fragst dich, was zum Teufel eigentlich mit uns los ist?«
    »Ja.«
    »Und du fragst dich auch, ob auch wir schwarze Uniformen mit silbernen Totenschädeln an der Mütze hätten tragen können?«
    »Ja. Genau das
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