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Der Effekt - Roman

Der Effekt - Roman

Titel: Der Effekt - Roman
Autoren: Heyne
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Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen …«
    Sie zitterte. Zuerst hatte sie es gar nicht bemerkt, aber nun ergriff dieses leichte Beben ihren ganzen Körper unter ihrer dicken Öljacke, und in ihrer Kehle war auf einmal ein so dicker Kloß, dass sie nicht mehr schlucken konnte. Die Gurkhas neben ihr sangen ein Totenlied für ihre gefallenen Kameraden Thapa und Birendra, und es klang genauso bewegend wie die Gebete der Mexikaner. Die amerikanischen Passagiere stimmten murmelnd mit ein, alle bis auf Moorhouse, den Banker, der neben Birendra lag. Er war während des Kampfes ums Leben gekommen, als er ihr zu Hilfe eilte. Seine Freundin hatte sich in ein schwarzes Cocktailkleid gezwängt, und es spielte kaum eine Rolle, dass es unter der gelben Öljacke eigentlich albern aussah. Ihre Schminke war längst tränenverschmiert, aber aus der Perspektive ihres eigenen Schmerzes kam es Jules vor, als würde diese Frau ihre Trauer eigentlich nur ganz oberflächlich empfinden. Jasons Hand lag auf ihrem Hintern, und er würde ihr sicher helfen, über den Verlust hinwegzukommen. Sie hatte sich bereits in der Kabine des Treuhand-Betrügers einquartiert, sehr zum Verdruss seiner Schwester Phoebe, die sich nun weigerte, mit ihm zu sprechen.
    Jules seufzte innerlich, als sie über dieses bedeutungslose Geplänkel nachdachte.
    Man sollte meinen, dass die Menschen nun ihre dummen Eitelkeiten vergaßen und einfach zusammenhielten, aber so war es nicht. Sie konnten es nicht. Ihr Vater hätte
gesagt, das liegt nun mal in der menschlichen Natur. Er war ein alter Gauner gewesen, er musste es wissen. Dennoch war gerade er auf seine seltsame Art ein guter Mensch gewesen, der niemals jemandem etwas wegnahm, der nicht genug hatte. Er hatte sogar einen Funken von Noblesse in sich getragen und dafür gesorgt, dass seine Kinder so erzogen wurden, dass sie sich nicht für etwas Besseres hielten. Oft hatte er ihr gepredigt: »Letzten Endes sind wir alle gleich schlecht, das steht fest.«
    »Miss Jules.«
    Lees Stimme lockte sie wieder aus der Reserve.
    »Wir haben Funkkontakt mit einem Kriegsschiff. Aus Neuseeland.«
    Sie entschuldigte sich mit einer knappen Handbewegung und verließ die Begräbniszeremonie. Sie war froh, nicht dabei sein zu müssen, wenn die Leichen ins Wasser geworfen wurden.
    »Er möchte mit unserem Kapitän reden«, sagte Lee, der einige persönliche Worte zu den Leichen seiner Kameraden gesprochen hatte, bevor die eigentliche Feierlichkeit begann.
    Unserem Kapitän, dachte Jules. Wie lächerlich.
    »Was will er denn?«, fragte sie.
    »Oh, nichts Schlimmes. Ich habe ihm mitgeteilt, dass wir amerikanische Flüchtlinge an Bord hätten. Er fragte, ob wir Hilfe bräuchten und ob wir auf dem Weg nach Auckland oder Sydney sind.«
    »Okay, danke.«
    Bevor sie die Treppe zum nächsten Deck hinaufstieg, hielt sie inne.
    »Was hast du dann vor, Lee? Wenn wir dort angekommen sind? Sie werden uns wahrscheinlich die Jacht wegnehmen. Sie gehört nicht uns.«
    Mr. Lee schüttelte traurig den Kopf.
    »Wahrscheinlich müssen wir sie abgeben.«

    »Sie können nicht nach Hause zurück, Mr. Lee. In Indonesien ist die Hölle los.«
    »Ja, Miss.«
    »Also, was werden Sie tun?«
    Zum ersten Mal wirkte er ein wenig verzweifelt.
    »Was werden Sie denn tun, Miss Jules? Vielleicht kann ich ja mitkommen.«
    »Ich weiß es nicht, Lee. Diese letzten Wochen haben mich ganz schön mitgenommen. Ich möchte nicht nach Hause zurück, so viel weiß ich. In England sieht es ziemlich düster aus. Das Land ist ein einziges Gefängnis. Nicht gerade der ideale Ort für Leute wie uns.«
    »Nein, Miss, Ausländer sind da schon gar nicht willkommen.«
    Sie stieg ein Stück nach oben, hielt inne und schaute noch einmal Richtung Heck, um ein letztes Mal Lebewohl zu sagen. Von hier aus betrachtet, vor der Kulisse des endlosen Südlichen Ozeans, sah die kleine Gruppe der Überlebenden verletzlich und traurig aus. Als wären es die letzten Menschen auf der Erde.
    Aber immerhin lebten sie noch.
    Daddy wäre bestimmt stolz auf mich, dachte sie.
    Er wäre stolz darauf gewesen, dass sie das Schiff und seine Passagiere in einen sicheren Hafen bringen würde, wo auch immer der lag.
    »Keine Sorge, Lee«, sagte sie. »Wir kommen schon irgendwie durch.«
    Ein Jahr
    Der Präsident der Vereinigten Staaten saß über einen kleinen Berg von Papieren gebeugt im Oval Office des Westlichen Weißen Hauses. Natürlich war es überhaupt nicht
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