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Der dunkle Schirm

Der dunkle Schirm

Titel: Der dunkle Schirm
Autoren: Philip K. Dick
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»Wuff, wuff!« Sie schnappte 442
    nach verschiedenen Gegenständen und verfehlte sie doch alle, und bestürzt erkannte er, daß etwas mit ihr nicht in Ordnung war. Zum ersten Mal sah er, daß sie hirngeschädigt war, und das erfüllte ihn mit einer unbestimmten Angst. Wie konnte so etwas nur geschehen?
    »Er sagte: »Du bist nicht der Wolf.«
    Aber trotzdem stolperte sie nach wie vor, als sie her-umtappte und herumhinkte; trotzdem blieb, wie er plötzlich begriff, die Hirnschädigung weiter bestehen. Er fragte sich, wie es möglich war, daß …

    Ich unglücksel’ger Atlas! Eine Welt,
    Die ganze Welt der Schmerzen muß ich tragen,
    Ich trage Unerträgliches, und brechen
    Will mir das Herz im Leibe.*

    ein solches Maß an Leid existieren konnte. Er ging weg.
    Hinter ihm spielte sie immer noch. Sie strauchelte und fiel. Was mag man dabei empfinden? fragte er sich.

    *

    Er wanderte den Korridor entlang, weil er den Staubsauger suchte. Es war ihm aufgetragen worden, sorgfältig das große Spielzimmer zu saugen, in dem die Kinder den größten Teil des Tages verbrachten.
    »Die Halle hinunter rechts.« Jemand wies ihm den
    Weg. Earl.

    * Anm. d. Übers.: Deutsch im Original
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    »Danke, Earl«, sagte er.
    Als er vor der geschlossenen Tür stand, wollte er eigentlich erst klopfen, aber dann öffnete er sie statt dessen einfach so.
    In dem Raum stand eine alte Frau, die drei Gummibäl-le in der Hand hielt, mit denen sie jonglierte. Ihr graues, strähniges Haar hing ihr bis auf die Schultern. Sie wandte sich ihm zu und grinste ihn zahnlos an. Sie trug weiße Sportsöckchen und Tennisschuhe. Er sah, daß ihre Augen tief in den Höhlen lagen; grinsende, eingesunkene Augen, leerer Mund.
    »Schaffst du das auch?« schnaufte sie und warf alle drei Bälle hoch in die Luft. Sie fielen herab, trafen sie, sprangen auf den Fußboden. Sie beugte sich über die Bäl-le und lachte. Aus ihrem Mundwinkel tropfte Speichel.
    »Nein«, sagte er und stand einfach nur da, zutiefst erschreckt.
    »Aber ich.« Das dünne alte Geschöpf, dessen Armge-
    lenke bei jeder Bewegung knackten, hob die Bälle wieder auf, blinzelte kurzsichtig und versuchte es noch mal.
    Jemand erschien neben Bruce in der Tür und stellte
    sich neben ihn, um ebenfalls zuzuschauen.
    »Wie lange übt sie schon?« sagte Bruce.
    »Ganz schön lange.« Der andere rief der Frau zu:
    »Versuch’s noch mal. Bald hast du den Dreh raus!«
    Die alte Frau gackerte, während sie sich niederbeugte und mit den Händen umhertastete, um die Bälle wieder aufzuheben.
    »Einer ist da drüben«, sagte die Person neben Bruce.
    »Unter dem Nachtschränkchen.«
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    »Ohhhhhhh!« keuchte sie.
    Sie sahen zu, wie die alte Frau wieder und wieder neue Versuche unternahm – die Bälle fallen ließ, die Bälle wieder aufhob, sorgfältig zielte, sich selbst ausbalancier-te, die Bälle hoch in die Luft warf und sich dann krümm-te, als sie auf sie herniederregneten und sie dabei manchmal auf den Kopf trafen.
    Die Person neben Bruce schnüffelte und sagte nase-
    rümpfend: »Donna, du solltest dich jetzt besser waschen gehen. Du bist nicht sauber.«
    Seltsam berührt sagte Bruce: »Das ist nicht Donna. Ist das wirklich Donna?« Er hob den Kopf, um die alte Frau zu beäugen, und er spürte ein großes Entsetzen in sich; so etwas wie Tränen standen in den Augen der alten Frau, als sie seinen Blick erwiderte, aber sie lachte, lachte, als sie die drei Bälle auf ihn warf, begierig, ihn zu treffen. Er duckte sich.
    »Nein, Donna, das sollst du doch nicht tun«, sagte die Person neben Bruce zu ihr. »Nicht nach anderen Leuten werfen. Probier einfach nur, das nachzumachen, was du im Fernsehen gesehen hast. Du weißt schon, fang sie selbst wieder auf und werf sie sofort wieder hoch. Aber zuerst machst du dich jetzt mal sauber; du stinkst.«
    »Okay«, stimmte die alte Frau zu und eilte davon, ge-bückt und klein. Die drei Gummibälle, die immer noch auf dem Boden umherrollten, ließ sie zurück.
    Die Person neben Bruce schloß die Tür, und sie gin-
    gen gemeinsam durch die Halle. »Wie lange ist Donna schon hier?« sagte Bruce.
    »Lange. Sie war schon da, bevor ich gekommen bin,
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    und das ist sechs Monate her. Sie versucht seit ungefähr einer Woche zu jonglieren.«
    »Dann ist das nicht Donna«, sagte er. »Nicht, wenn sie schon so lange hier ist. Ich bin nämlich gerade erst vor einer Woche hierhergekommen.« Und Donna, dachte er, hat mich mit ihrem MG hierhergefahren. Ich erinnere mich daran,
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