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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers
Autoren: Joyce Maynard
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Jugendstrafvollzug lande, wenn auch nur für ein Jahr oder höchstens zwei Jahre.

    Meine Mutter allerdings könne sich auf ein härteres Urteil gefasst machen, wenn sie einen entflohenen Häftling beherbergt und zur Straffälligkeit eines Minderjährigen beigetragen habe. Sie würde natürlich das Sorgerecht für mich verlieren. Darüber waren sie ohnehin mit meinem Vater im Gespräch. Es hatte offenbar vor diesem Ereignis bereits Hinweise auf ihre eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit gegeben.
    Ausnahmsweise schwieg meine Mutter diesmal während der gesamten Heimfahrt. Auch unsere Suppe aßen wir an diesem Abend wortlos, aus zwei Schalen, die wir aus dem Auto geholt hatten. Und so lebten wir auch in den nächsten Tagen. Wenn wir irgendwas brauchten – eine Tasse, einen Teller, einen Löffel, ein Handtuch –, holten wir es aus dem Auto.
    Das Schuljahr hatte jetzt schon begonnen. Als ich in die siebte Klasse kam, eilte mir bereits ein Ruf voraus, der zu einer gewissen Beliebtheit führte – ein ganz neues Erlebnis für mich. Stimmt es wirklich, fragte mich ein Typ, als wir nach dem Sport gemeinsam tropfnass aus der Dusche kamen, dass er dich gefoltert hat? Und war deine Mutter seine Sexsklavin?
    Bei den Mädchen verschaffte mir dieses Abenteuer sogar so etwas wie Sexappeal. Rachel McCann, um die seit Jahren meine sexuellen Fantasien kreisten, trat eines Tages zu mir, als ich an meinem Wandschrank hastig meine Bücher einpackte, um schnell nach Hause zu kommen.
    Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich wahnsinnig mutig finde, sagte sie. Wenn du mal über diese ganze Sache reden willst, bin ich jederzeit für dich da.

    Es gehörte zu den vielen bedauerlichen Aspekten dieses sonderbaren Feiertagswochenendes, dass ich just in dem Moment, als mir die Aufmerksamkeit eines Mädchens zuteilwurde, von dem ich seit der zweiten Klasse träumte, nur noch in Ruhe gelassen werden wollte. Zum ersten Mal verstand ich, warum meine Mutter seit Jahren einfach nur zuhause bleiben wollte. Das allerdings kam für mich leider nicht in Frage.

    Meine Mutter kündigte damals ihr Zeitungsabo, aber ich verfolgte den Fall weiter, indem ich die Zeitung in der Bibliothek las. Wenn sie jemals verstand, warum keine Anklage gegen sie erhoben wurde und es niemals zum Prozess kam, sprach sie jedenfalls nicht darüber, und auch ich schnitt das Thema nicht an. Hätte der Staatsanwalt beschlossen, die Sache zu verfolgen, wäre es ein Leichtes gewesen, durch eine Zeugenaussage von Evelyn (bei Barry wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, dass er auch etwas auszusagen hatte) zu erfahren, dass meine Mutter in den betreffenden sechs Tagen nicht unter Zwang gehandelt und nichts gegen ihren eigenen Willen getan hatte – mit Ausnahme der Betreuung von Evelyns Sohn vielleicht.
    Aber ich durchschaute die Sache trotzdem, was man einem Dreizehnjährigen vielleicht nicht zutrauen würde. Frank hatte eine Abmachung getroffen. Volles Geständnis. Verzicht auf einen Prozess. Im Tausch für die Zusicherung, dass man meine Mutter und mich unbehelligt lassen würde. Und so war es dann auch.

    Frank bekam zehn Jahre für die Flucht und fünfzehn für die Geiselnahme. Absurd, sagte der Staatsanwalt, wenn man bedenkt, dass dieser Mann in achtzehn Monaten die Chance gehabt hätte, auf Bewährung freizukommen. Aber wir haben es hier mit einem Gewaltstraftäter zu tun. Ein Mann, der seinen Wahnsinn nicht unter Kontrolle hat.
    Ich bereue nichts, schrieb Frank meiner Mutter in dem einzigen Brief, den sie nach dem Urteil von ihm bekam. Wenn ich nicht aus diesem Fenster gesprungen wäre, hätte ich dich niemals gefunden.
    Wegen seines Fluchtversuchs galt Frank als Risikohäftling, der in einem Hochsicherheitsgefängnis untergebracht werden musste, das es in unserem Bundesstaat nicht gab. Er wurde vorübergehend in den Bundesstaat New York verlegt, wo meine Mutter ihn besuchen wollte. Nachdem sie die ganze Strecke gefahren war, erfuhr sie dort, dass er in Einzelhaft war. Später wurde er dann an irgendeinen Ort in Idaho verlegt.
    Eine ganze Weile danach zitterten die Hände meiner Mutter so heftig, dass sie nicht einmal eine Suppendose aufmachen konnte. Sie stimmte ohne Widerspruch zu, das Sorgerecht für mich meinem Vater zu überlassen. Bevor er mich abholte, um mich mitzunehmen in dieses Haus, wo ich mit ihm und Marjorie und den Zwergen würde leben müssen, sagte ich meiner Mutter, ich würde ihr nie verzeihen. Dennoch tat ich es. Auch sie hätte mir schließlich Dinge
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