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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers
Autoren: Joyce Maynard
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Weihnachtsmarkt in der Highschool, eine Aufführung von Oklahoma! vom Lions Club.
    Das ist mit Tanz, sagte ich. Großer Fehler, das zur Sprache zu bringen.
    Das nennen die nur Tanz, erwiderte sie.

    Ich fragte mich manchmal, ob sie diese Probleme hatte, weil sie meinen Vater zu sehr geliebt hatte. Ich hatte von solchen Fällen gehört, in denen jemand es nicht verkraftete, wenn der Mensch starb oder wegging, den man so sehr geliebt hatte. Das meinten die Leute, wenn sie von »gebrochenem Herzen« sprachen. Einmal, als wir bei unserem Fertiggericht saßen und meine Mutter sich gerade ein drittes Glas Wein eingoss, hatte ich sogar kurz überlegt, ob ich sie darauf ansprechen sollte. Ich fragte mich, ob sie meinen Vater jetzt so sehr hasste, weil sie ihn früher so sehr geliebt hatte. Das Ganze kam mir vor wie etwas, was sie einem im Physikunterricht beibringen – auch wenn wir den noch gar nicht hatten damals. Wie bei einer Wippe,
wo der eine ganz weit unten sein muss, damit der andere ganz oben landet.
    Doch dann kam ich zu dem Schluss, dass es nicht der Verlust meines Vaters war, der meiner Mutter das Herz gebrochen hatte. Sondern der Verlust der Liebe selbst – des Traums, quer durch Amerika zu fahren und sich von Hot Dogs und Popcorn zu ernähren, sich in glitzerndem Kleid und roter Unterwäsche quer durch Amerika zu tanzen. Der Traum, dass jemand einen schön fand – etwas, das mein Vater ihr jeden Tag aufs Neue gesagt hatte, wie sie mir erzählte.
    Und plötzlich sagt das keiner mehr, und man ist wie einer dieser Keramikigel, aus dem Sprossen sprießen, die niemand mehr gießt. Oder wie ein Hamster, den keiner mehr füttert.
    So war meine Mutter. Ich konnte den Verlust ein kleines bisschen ausgleichen, indem ich ihr zum Beispiel einen Stein, den ich gefunden hatte, oder eine Blume aufs Bett legte, mitsamt einem Zettel, auf dem »Für die beste Mom der Welt« stand. Oder ihr Witze aus meinem Witzebuch erzählte, lustige Lieder für sie erfand, die Geschirrschublade sauber machte, die Küchenregale mit Schrankpapier auslegte oder ihr zum Geburtstag oder zu Weihnachten selbstgebastelte Gutscheinhefte schenkte, die sie gegen »Einmal Müll raustragen« oder »Einmal Staubsaugen« einlösen konnte. Als ich noch kleiner war, hatte ich ihr einmal einen Gutschein mit der Aufschrift »Ehemann für einen Tag« geschenkt. Wenn sie den einlöste, sollte sie sich fühlen, als hätte sie wieder einen Mann im Haus, und ich würde alles für sie tun, was sie sich wünschte.
    Damals war ich zu jung, um zu verstehen, dass ich nicht
imstande war, ihr »Ehemann für einen Tag« zu sein, aber irgendwie spürte ich wohl trotzdem schon meine schreckliche Unzulänglichkeit, und dieses Gefühl bedrückte mich, wenn ich in meinem kleinen Zimmer neben ihrem in meinem schmalen Bett lag. Die Wand war so dünn, dass es sich anfühlte, als sei sie bei mir im Zimmer, und ich spürte ihre Einsamkeit und ihre Sehnsucht, bevor ich die Worte dafür kannte. Vermutlich war mein Vater gar nicht der Grund dafür. Wenn ich ihn mir jetzt anschaute, konnte ich mir kaum vorstellen, dass er ihr genügt hatte. Was sie geliebt hatte, war die Liebe selbst.

    Ein oder zwei Jahre nach der Scheidung, an einem unserer Samstagabende, hatte mein Vater mich gefragt, ob ich den Eindruck hätte, dass meine Mutter vielleicht verrückt wurde. Ich muss damals erst sieben oder acht gewesen sein, wobei ich die Frage auch nicht leichter hätte beantworten können, wenn ich älter gewesen wäre. Allerdings war ich alt genug, um zu wissen, dass die Mütter von anderen Kindern nicht im Auto sitzen blieben, während ihre Söhne in den Laden rannten und die Einkäufe erledigten. Oder am Schalter in der Bank – damals gab es noch keine Geldautomaten – einen Scheck über fünfhundert Dollar einlösten; damit würden wir lange auskommen, sagte meine Mutter, so dass wir nicht so schnell wieder in die Stadt fahren mussten.
    Ich war bei anderen Leuten gewesen und hatte andere Mütter gesehen: Sie fuhren zu ihren Jobs, chauffierten die Kinder zu Terminen, saßen bei Sportveranstaltungen auf den Bänken am Rande des Spielfelds, gingen zur Kosmetikerin
und ins Shoppingcenter und besuchten Abendkurse. Sie hatten auch Freundinnen, und zwar nicht nur eine einzige traurige Frau mit einem behinderten Sohn im Rollstuhl.
    Sie ist nur schüchtern, sagte ich zu meinem Vater. Und zu sehr beschäftigt mit ihren Musikstunden. Das war in dem Jahr, in dem meine Mutter angefangen hatte, Cello zu
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