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Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Titel: Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
Autoren: Elinor Lipman
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Verkäuferin in einem 24-Stunden-Laden oder Näherin in einem Sweatshop der Dritten Welt. Und das ist keine Übertreibung. Aufgewachsen bin ich in einem zweistöckigen Haus zwischen Porzellan und Silber, mit einer Zugehfrau, die donnerstags kam, und Eltern, die mir das Studium finanzierten. Aber vier Jahre danach hauste ich in einem Zimmer, das mich mit Wehmut an die winzigen Schuhschachteln zurückdenken ließ, die ich während meiner Uni-Zeit bewohnte. Beim Anblick meines Zimmers fragte ich mich immer wieder, warum ich gleich beim erstbesten Angebot zuschlagen musste, das sich mir auf dem schwarzen Brett aufdrängte. Doch dann fielen mir wieder die zusätzlichen fünfundzwanzig Minuten Schlaf ein, die ich durch die Nähe meiner Behausung zur Klinik gewann, dass ich mir für die drei Häuserblocks nichts überziehen musste, wenn es über fünf Grad hatte, und dass Leo Frawley das Musterexemplar eines Wohnungsgenossen war.
    Leo hätte dasselbe auch über mich gesagt: Ich nahm so gut wie nie die Einrichtungen zur gemeinsamen Nutzung in Anspruch. Ich sah nicht fern, spielte keine CDs und rührte den Thermostat nicht an. Insbesondere im Kühl-, Küchen- und Medizinschrank war meine Existenz kaum nachweisbar. Ich war nie im Weg. Wenn ich durch Anwesenheit glänzte, dann im Tiefschlaf.
    Als ich den Mietvertrag unterschrieb, tat ich das in gutem Glauben. Ich wusste nichts über Leo, orientierte mich lediglich an dem ersten Eindruck, den unser einmaliges Treffen in der Kantine hinterlassen hatte. Er war angenehm, redegewandt und offensichtlich beliebt. Kollegen grüßten winkend von überall her, auch wenn sie dazu ihre Tabletts auf nur einer Hand jonglieren mussten.
    »Sie haben viele Freunde«, bemerkte ich.
    »Die haben Sie auch, wenn Sie einmal so lang hier sind wie ich.«
    Ich sagte, ich würde ruhig, rücksichtsvoll und reinlich sein. Ich wäre sicher nicht die größte Stimmungskanone in Boston - ganz im Gegenteil -, doch würde ich nie seine Nachtruhe stören, das Telefon monopolisieren oder mit der Miete im Rückstand bleiben.
    »Das könnte funktionieren.«
    Ich fragte ihn nach Referenzen, und er schrieb mir ein halbes Dutzend Namen und Telefonnummern auf eine Serviette. Die einzige Nummer in Boston war die seiner Mutter, die, wie er mir später erzählte, präpariert war, sich nicht allzu wortkarg und missbilligend zu gerieren, wenn Frauen sich auf die Anzeige hin meldeten. Mrs. Frawley vermeldete, dass Leo der ordnungsliebendste ihrer ganzen Brut sei, und das habe durchaus etwas zu bedeuten, weil es unter ihren dreizehn Kindern einen Priester, eine Nonne, einen Versicherungsmathematiker, einen Apotheker, zwei Bibliothekare und einen Labortechniker für die amerikanische Lebensmittelbehörde gäbe. Sie könne sich zwar nicht vorstellen, warum eine junge Frau sich eine Wohnung und eine Toilette mit einem Mann teilen wolle, aber wenn es denn so sein solle, dann würde sie von allen ihren Söhnen Leo dafür empfehlen. Ich dankte ihr und sagte, sie könne sehr stolz auf ihn sein. Wir seien Kollegen im selben Krankenhaus, und es sei ganz offensichtlich, dass jedermann dort ihn auf das Höchste schätze.
    »Er ist nach einem Papst benannt«, erzählte sie mir noch.
    Ich wollte mit seiner Mutter nicht allzu persönliche oder rechtlich heikle Themen anschneiden, deshalb fragte ich Leo selbst, ob er sich unbekleidetermaßen in der Wohnung zu bewegen pflegte, oder es für wichtig hielt, zu klopfen, bevor er die Räumlichkeiten eines Mitbewohners betrat.
    »Es kann schon vorkommen, dass ich mit einem Handtuch um die Hüfte vom Bad in mein Zimmer flitze. Habe ich Ihre Frage damit beantwortet?«
    Ich sagte, das sei auf jeden Fall akzeptabel. Ich hatte ein Semester in einem gemischten Studentenwohnheim gelebt, bis ich eine andere Unterkunft gefunden hatte.
    »Wenn man mit acht Schwestern aufgewachsen ist, weiß man, wann man anklopfen muss. Und man weiß auch, dass man nicht unbedingt immer ins Bad kann, wenn man gerade möchte.«
    Damit hätte ich es gut sein lassen sollen, aber ich ließ nicht locker. Hatte sich eine Frau - insbesondere eine andere Mitbewohnerin oder Kollegin - schon einmal, offiziell oder inoffiziell, über sein Benehmen beschwert?
    »Habe ich irgendetwas getan oder gesagt, das darauf schließen lässt?«
    Mir gefiel die Würde, mit der er mir antwortete, und die Tatsache, dass er ein klein wenig beleidigt war. Meine anfängliche Grobheit machte mich in vieler Hinsicht zu einer besseren Wohngenossin. Kaum
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