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Der Drachenflüsterer - Der Drachenflüsterer

Titel: Der Drachenflüsterer - Der Drachenflüsterer
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gute Weile nachdem die Sonne untergegangen war, spuckte Ben noch einmal auf die Warze und machte sich auf den Weg zum Friedhof. Der Himmel war sternenklar, der Mond noch immer halb voll, darum war diese Nacht nicht stockfinster. Trotzdem war ihm nicht wohl bei dem Gedanken, allein auf den Friedhof zu gehen. Doch die Warze störte ihn zu sehr, sie juckte und schien zu wachsen, sie musste einfach weg. Vier- oder fünfmal hatte er sie bereits rausgeschnitten, doch sie war immer wieder nachgewachsen. Es war eine von den Warzen, die nur mit einem Zauber zu bezwingen waren. Er hoffte, dass die meisten Toten dort spukten, wo sie gestorben waren, nicht da, wo sie begraben lagen.
    Ohne einen Menschen zu treffen, gelangte er bis zur Brücke und überquerte den Fluss. Aus dem Goldenen Stier drangen noch Licht, trunkenes Lallen und lautes Gelächter, sonst war es auch auf der rechten Seite des Dherrn ruhig. Ben schlich weiter, folgte der Hauptstraße zum Marktplatz und wäre fast über einen herausstehenden Pflasterstein gestolpert. So schlug er sich nur die Zehe an und fluchte leise vor sich hin. Kleine Pfoten eilten im Dunkeln davon, wahrscheinlich eine Ratte
oder eine nachtaktive Echse, die er aufgescheucht hatte. Dann herrschte wieder Stille.
    Auf dem Marktplatz ging er direkt zur Wasseruhr hinüber, die zwischen Rathaus und Tempel stand. Sie funktionierte wie eine Sanduhr; das klare Glas, aus dem sie gefertigt war, stammte aus Venzara, der hängenden Stadt an der Lagune der Zersplitterten Titanen, und sie war so hoch wie drei ausgewachsene Männer. Trotz ausgeklügelter Mechanik brauchte es auch drei ausgewachsene Männer, um sie jeden Mittag umzudrehen. In vierundzwanzig Stunden lief das Wasser aus dem oberen Zylinder durch die Gefäßverengung in der Mitte der Uhr in den unteren Zylinder. An der Strichskala auf den Zylindern konnte man ablesen, wie spät es war. Yanko hatte ihm einmal erklärt, warum Wasseruhren genauer gingen als Sonnenuhren, aber Ben hatte es wieder vergessen. Er machte sich nur selten etwas aus der genauen Uhrzeit.
    Das brackige Wasser stand irgendwo zwischen der elften und zwölften Stunde, er hatte also noch genug Zeit; der Friedhof war nicht weit. Ben drehte sich um und schlenderte zu Dagwarts Standbild, das in der Mitte des Marktplatzes thronte.
    Der Held Dagwart hatte vor drei oder vier Jahrhunderten die damals zahlreichen Trolle in die Berge zurückgeschlagen. In einer letzten großen Schlacht im Tal waren die grauen, menschenfressenden Kreaturen auf der Flucht durch den Dherrn so zahlreich gefallen, dass ihre steinernen Leiber den Fluss beinahe aufgestaut hatten. Und als sie nach ihrem Tod wieder zu Fels wurden, ihr Blut und ihre Tränen zu Sand, bildeten sie im Dherrn am Fuß der Berge eine Furt. An dieser Stelle gründete Dagwart eine Siedlung und nannte sie im Gedenken an seinen großen Sieg Trollfurt. Von hier aus unternahm
er zahlreiche Streifzüge in die Berge, um die letzten Trolle zu jagen und sie endgültig zu vertreiben.
    »Heute gibt es keine Helden wie Dagwart mehr«, sagten die Leute in Trollfurt, und dann klangen immer Respekt und zugleich Tadel für die Nachfahren des oft besungenen Stadtgründers in ihren Stimmen mit.
    Das Standbild war noch ein Stückchen größer als die Wasseruhr. Der imposante Trolltöter hatte sein Schwert erhoben und ritt auf einem flügellosen Drachen, der dreimal so groß wie ein Pferd war und sich angriffslustig auf die Hinterbeine erhoben hatte, die vorderen Klauen hochgereckt. Ben klammerte sich an Dagwarts linkes Knie, setzte den Fuß auf den Stiefel des Helden und zog sich hoch. Die Bronze war überall kühl, und die geschuppte Haut des Drachen fühlte sich rau an. Ben kletterte vor Dagwart in den Sattel und plumpste hinein, dann rieb er mit den Händen über die Schulterknubbel des Drachen. Das brachte bei lebenden Drachen Glück und konnte hier sicher nicht schaden. Daran glaubten die meisten Kinder in Trollfurt fest, deshalb war die Bronze an den Knubbeln ganz glatt gerieben.
    Eine Weile ließ er die Hände auf den Knubbeln liegen und blieb einfach sitzen. Irgendwann würde er auf einem echten, lebendigen Drachen reiten, nicht immer nur nachts auf diesem Standbild. Er hatte nie vergessen, was er sich vor Jahren geschworen hatte, als er den Drachenritter gesehen hatte. Zweimal schon hatte er seine Sachen gepackt gehabt, doch das nächste Ordenskloster war weit, und plötzlich waren Zweifel in ihm erwacht. Weshalb sollte der Orden einen zerlumpten
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