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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Friedrich Glauser
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keuchend und spuckend der Wirt Brönnimann und trug eine Fünfliterkanne Benzin. Studer füllte den Behälter auf, zahlte seine Schuld, trat auf den Anlasser und fuhr in die stille Nacht hinein. Einige Gebäude des Weilers Pfründisberg waren noch erleuchtet – er ließ ihre Lichter hinter sich. Die Sommernacht war frisch.
    Dies alles war am 18. Juli geschehen.
    Und heute schrieb man den 18. November.
    Drei Monate hatte der ›Chinese‹ als Höchstfrist für seine Ermordung angegeben. Er hatte einen Monat zu wenig berechnet, denn vier Monate waren seit dem 18. Juli vergangen.

Die drei Atmosphären
    Studers Schweigen vor der Leiche des ›Chinesen‹ – wie er den Fremden stets noch bei sich nannte – war wohl so kurz gewesen, daß es seinen Begleitern nicht aufgefallen war. Das Wiedererleben jener Julinacht hatte vielleicht einige Sekunden gedauert. Der Ablauf der Begebenheiten, die sich in ihr abgespielt hatten, war schnell und für Außenstehende unbemerkt vor sich gegangen. Aber der Wachtmeister wollte weder dem alten Dorfarzte von Gampligen, dem die grauen Haare über Ohren und Sammetkragen wucherten, noch dem eleganten Statthalter, dessen auf Taille geschnittener Überzieher sicher sehr wirkungsvoll war, aber wenig Wärme gab, nichts von jener Julinacht erzählen. Darum stellte er scheinbar naiv folgende Frage:
    »Wie heißt der Tote und wo hat er gewohnt?« Der Statthalter räusperte sich.
    »Ein Fremder«, sagte er, »obwohl er in Gampligen heimatberechtigt war. Als Dreizehnjähriger ist er durchgebrannt und ließ sich als Schiffsjunge anheuern. Später unternahm er alles mögliche – aber soviel ich in Erfahrung bringen konnte, hat er sich besonders in China herumgetrieben. Ich glaube, er besaß sogar das Kapitänspatent. Ursprünglich hieß er mit dem Vornamen Jakob…« Dies gab Studer einen kleinen Ruck. »…Aber er hat das Jakob anglisieren lassen und sich James genannt. Er wohnte in einem Zimmer beim Sonnenwirt und niemand wußte, warum er sich dort niedergelassen hatte. Zog ihn die Heimat, das Dorf Gampligen, an? Suchte er nach Verwandten? Die Beantwortung all dieser Fragen wird der Ermordete wohl mit ins Grab nehmen.«
    »Und was habe ich Euch gesagt, Wachtmeister? Wird unser Statthalter nicht ein ausgezeichneter Nationalrat werden? Reden kann er, reden! Und was die Hauptsache ist, er lauscht mit Genuß seinem eigenen Geschwätz!«
    »Herr Doktor Buff, ich möchte Sie doch sehr bitten…«
    »Bitten Sie nur, bitten Sie nur!«
    »Ich weigere mich, auf weitere Insinuationen einzugehen; ich habe meine Pflicht getan und eine kriminalistisch geschulte Person zugezogen… der Rest geht mich nichts an!«
    »Sie waschen Ihre Hände in Unschuld, Herr Statthalter Ochsenbein! Natürlich, Pilatus war ja auch ein Statthalter…«
    »Aber, meine Herren!… Aber, meine Herren!« Studer segnete nach beiden Seiten mit seinen in Wollhandschuhen steckenden Händen. »Wenn ich mir erlauben dürfte, eine Merkwürdigkeit dieses Falles aufzuzeigen…«
    »Zeigen Sie nur auf, hihi! Zeigen Sie nur auf!« krächzte Doktor Buff.
    »… dann wäre es« – Studer ließ sich nicht aus der Ruhe bringen – »die folgende Tatsache: Dieser Fall scheint in drei Atmosphären zu spielen: in einem Dorfwirtshaus, in einer Armenanstalt, in einer Gartenbauschule. Am stärksten scheint die Armenanstalt in diesen Fall hinein verwickelt zu sein… Warum finden wir die Leiche des Ermordeten auf dem Grabe der verstorbenen Frau des Hausvaters Hungerlott?«
    »Äbe!… Das verstärkt noch meine Theorie des Selbstmordes«, sagte Doktor Buff weise und kratzte sich die Stirne. »Die Liebe! Sie wissen, Herr Wachtmeister, welche Verheerungen die Liebe imstande ist anzurichten – in den Menschenherzen. Die Frau des Hausvaters war eine schöne Dame… Vielleicht – ich sage vielleicht! – hatte sich der Fremde in sie verliebt… Vielleicht konnte er ihren Tod nicht überstehen und beging Selbstmord…« Das Gesicht des Arztes sah aus wie ein Knäuel von Runzeln.
    »Da hört Ihr es selbst, Herr Wachtmeister! Seit einer Stunde gebe ich mir Mühe, diesen Arzt hier zu überzeugen, daß wir es mit einem Mord zu tun haben und was ist seine neueste Entdeckung? – Selbstmord aus Liebesgram!«
    Studer hörte dem Gezänk der beiden nicht weiter zu. Er hatte sich über die Leiche gebeugt und begann den Inhalt der Taschen zu prüfen. Aber während er dies tat, konnte er nicht verhindern, daß er mit dem Toten ein stummes Gespräch hielt: »Du bist mir auf
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