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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Friedrich Glauser
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Überkleidern drückten sich gegen die Türe – nun stand Herr Hungerlott im Schein der Lampe:
    »Ah! Der Herr Wachtmeister!? Wie geht's, wie geht's?«
    Studer murmelte etwas Unverständliches.
    Eine zweite Gestalt, massig, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln über blondbehaarten Armen, stand im Rahmen der Tür und kolderte los:
    »Wie oft habe ich schon gesagt, Ihr sollt am Abend nicht in die Wirtschaft kommen? Hä? Könnt Ihr nicht folgen? So, aber jetzt heim! Marsch-marsch!« Das mußte der Direktor der Gartenbauschule sein. Ein dreifaches Kinn sickerte über sein rohseidenes Hemd, auf seinem gewölbten Bäuchlein baumelte eine Kette aus Weißgold und in den Ringfinger der Rechten war der Ehering tief eingegraben.
    Die Schüler verschwanden…
    Und nun erst erschien der Uralte, gebeugt und keuchend. Er krächzte:
    »Was hat es gegeben, Huldi? Hast mich nicht rufen können?« Dann machte ein Hustenanfall seinen Fragen ein Ende. Ihm auf dem Fuße folgte sein Partner beim Jassen, der Bauer Gerber, und so unscheinbar war dieses Männlein, daß niemand ihm Beachtung schenkte.
    In dem fast leeren Raume schwebte als einzige Erinnerung an die Armenhäusler der Geruch von Bätziwasser und schlechtem Tabak. Aber auch dieser schwand, als die Serviertochter auf den Befehl des Direktors ein Fenster öffnete: Die vom Gewitterregen gereinigte Luft strömte ins Zimmer…
    Und dann geschah ein Wunder. Plötzlich standen auf dem Mitteltisch sechs Gläser aus Kristallglas (Kristallglas in einer kleinen Beize!). Herr Farny schenkte ein und, mit einem Augenzwinkern zum Wachtmeister, stellte er vor:
    »Herrn Hungerlott, den Hausvater der Armenanstalt, kennen Sie schon, Herr Inspektor… aber hier, darf ich Ihnen vorstellen: Herr Ernst Sack-Amherd, Direktor der Gartenbauschule Pfründisberg. Weiter: Herr Alfred Schranz, Landwirt; Herr Albert Gerber, Landwirt; die Serviertochter Hulda Nüesch. Und als letzter: unser allverehrter Rudolf Brönnimann, Wirt des Gasthofes ›zur Sonne‹… – Und hier unser Inspektor Jakob Studer… Wir wollen anstoßen!«
    Studer erinnerte sich, damals gedacht zu haben, dieser Herr Farny müsse ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis haben, denn: er hatte des Wachtmeisters Legitimation nur kurz gesehen und nicht nur an seinen Familiennamen erinnerte er sich, sondern auch an seinen Vornamen. Doch seinen Reim: ›Bruder-Studer‹ hatte er vergessen, denn er duzte seinen Gast nicht mehr…
    »Es ist ein Elend«, sprach der Hausvater Hungerlott, »man kann den Leuten das Schnapsen nicht abgewöhnen. Ich möchte Euch bitten, Wachtmeister, das, was Ihr hier gesehen habt, in Bern nicht weiter zu erzählen… Schließlich und endlich, die Leute arbeiten die ganze Woche, am Samstag bekommt jeder ein Fränkli und ein Päckli Tabak. Das muß für die nächstfolgenden acht Tage langen. Was tun die Leute, um ihr Elend zu vergessen?… Kognak ist ihnen zu teuer, darum saufen sie Bätziwasser. Der Pauperismus, Herr Wachtmeister, ist der Aussatz unserer Gesellschaft. Muß ich Ihnen das Wort ›Pauperismus‹ erklären?«
    Studer blickte vor sich auf den Tisch. Er hatte einen nichtssagenden Gesichtsausdruck aufgesetzt, der wie eine Maske wirkte. Jetzt hob er die Augen und sein Blick war leer.
    »Pauper«, dozierte der Hausvater, »heißt ›arm‹ auf lateinisch. Der Pauperismus beschäftigt sich mit dem Probleme der Armut. Bei uns kommt natürlich noch die ganze Frage des Fürsorgewesens hinzu, die ebenso kompliziert ist wie…«
    »Aber du hescht d'Stöck nid gschrybe, im letschte Gang!« unterbrach hier der Landwirt Gerber. Brönnimann begehrte auf: Woll, er habe sie geschrieben, das sei eine verdammte Lüge… Und Studer sagte, daß er schon lange eine Kanne Benzin verlangt habe, ob es nicht möglich sei, sie endlich zu bekommen?
    – Exakt! Der Mann habe Benzin verlangt, unterstützte Gerber des Wachtmeisters Reklamation.
    Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann sagte der Direktor der Gartenbauschule, Herr Sack-Amherd: – Ja, es sei auch nicht immer einfach mit den angehenden Gärtnern… meistens hätten die Burschen schon selbständig gearbeitet und keinen Sinn für Disziplin.
    »Was soll ich aber dann sagen?« mischte der Hausvater Hungerlott sich wieder in das Gespräch. »Alles wird mir zugewiesen, was man nicht gut nach Witzwil, nach Thorberg oder nach Hansen schicken kann. Leute sind darunter, die mindestens zehn Jahre Gefängnis auf dem Buckel haben, beschäftigen muß ich sie, aber Sie sollten die
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