Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt
Autoren: Argirov Valentin
Vom Netzwerk:
erkrankte erst hinterher. Beides war möglich, und Bertram mußte das wissen. Er verbohrte sich in weitere Überlegungen. ›Er hat meine Treue immer mißbraucht. Wenn ich ehrlich nachdenke, ist er mir seit langem fremd. Ich habe nur aus Gewohnheit an unserer Verbindung festgehalten, weil ich ihn einmal zu meinem Freund wählte. Unser Weg ist nicht mehr der gleiche.‹
    An dieser Unversöhnlichkeit zerbrach Bertrams schwacher Versuch, den Weg zu dieser Freundschaft, die seit langem keine mehr war, wiederzufinden. Als hätten sie mit ihrer Jugend die innere Größe eingebüßt, brachten die Professoren Thimm und Bertram die Kraft für diesen Schritt nicht mehr auf. Sie grüßten sich fortan mit einem Kopfnicken.
    Obwohl sie vergangene Nacht kein Auge zugetan hatte, war Leopoldine nicht müde. In ihrer beflügelten Stimmung, die nach Aufgaben verlangte, merkte sie nicht, wie der Tag schnell verging. Sie hatte sich immer wieder im Spiegel betrachtet, jedesmal fand sie, ihr Gesicht strahle eine friedliche Schönheit aus. Im Spiegel lächelte sie entwaffnend auf die Frage, die sie beunruhigte: ›Ist es überhaupt schicklich, daß eine Schwester und ein Pathologieprofessor …‹
    So war der Tag verflogen. Sie wurde sich dessen erst bewußt, als in den Gängen und Zimmern der Pathologie kein Laut mehr zu hören war. Sie war mit Thimm allein. Die Zeit verstrich, und ihre Hochstimmung begann zu schwinden, sie fragte sich unsicher: ›Er wollte doch mit mir sprechen. Das kann er unmöglich vergessen haben. Aber was tut er jetzt?‹
    Für sie gab es viel zu überlegen. Sie sagte sich: ›Ich weiß immer noch nicht, was er wirklich ist. Ein Egoist?‹ Auch das würde sie bereitwillig akzeptieren.
    Bis halb elf wartete sie vergeblich. Dann entschloß sie sich, zu ihm zu gehen. Im ersten Stock angelangt, zögerte sie vor der gepolsterten Doppeltür. Die Stille des verlassenen Gebäudes erschien ihr unheimlich, sie vernahm die Schläge ihres Herzens. Dann klopfte sie und trat ein. Das erste, was sie unvorbereitet traf, war sein Blick. Thimms Gesicht war finster und versprach nichts Gutes. Bevor sie eintrat, war sie überzeugt gewesen, er würde ihr gleich entgegenkommen und sie küssen, und sie würde sich an ihn schmiegen. Er aber saß hinter seinem Schreibtisch. Das Zimmer war durch seine Schreibtischlampe nur spärlich beleuchtet; ihr schien, als hätte er schon vor einer Weile aufgehört zu mikroskopieren. Sein kalter Blick ließ keinen Zweifel daran, daß ihr Erscheinen unerwünscht war. Er fragte schroff: »Was willst du?«
    Zitternd antwortete sie: »Ich wollte fragen, ob … Sie etwas brauchen.« Verwirrt suchte sie sich dem Funken von Bosheit in seiner Stimme zu entziehen, während er ihren bittenden Augen vollkommen gleichgültig und kalt begegnete.
    Erstarrt blickte Leopoldine auf sein liebloses Gesicht und suchte vergeblich nach passenden Worten. »Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagte sie schwach. Jetzt wuchs ihre Aufregung, ihre Wangen brannten heiß. »Ich dachte, es würde Sie freuen … Sie würden nichts dagegen haben, wenn ich für einen Augenblick vorbeischaue …«
    »Ich möchte nicht grundlos gestört werden«, entgegnete er und sah kurz an ihr vorbei, als würde ihr Anblick ihm Unbehagen bereiten.
    »Verzeihen Sie mir, bitte!« sagte sie demütig und schuldbewußt und hielt verlegen den Kopf schief.
    Thimm betrachtete sie unwillig. Ihr weißer Kittel war offen, und unter Rock und Jacke zeichnete sich ihr Körper ab. Sein Zorn und seine Selbstvorwürfe wegen der vergangenen Nacht richteten sich jetzt gegen sie, gegen diesen blühenden Körper, den er als störend empfand. Bevor sie hereingekommen war, hatte er den Schlußstrich unter die erste Phase seiner Tierexperimente über Tumortransplantationen gesetzt. Die Ergebnisse, obwohl noch weit von der Ideallösung entfernt, hatten sich als vielversprechend erwiesen. Es war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Er genoß seine Freude und wollte in dieser Gemütslage nicht gestört werden. Diese Frau hier hatte er völlig vergessen. Die Nacht mit ihr war ein Fehler, er hoffte, daß sie nicht auf den Gedanken kam, sich etwas darauf einzubilden. Von Illusionen befreit, stellte er fest, daß er für sie nicht das geringste Interesse verspürte. Noch war es mit allen Frauen in seinem Leben – mit einer Ausnahme – so gegangen: Sie hatten selten Begeisterung und nie Leidenschaft geweckt. ›Was übrigbleibt, ist die Treue zu sich selbst‹, sagte er sich. Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher