Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt
Autoren: Argirov Valentin
Vom Netzwerk:
ereignislosem Leben gab es nichts, was einem Vergleich mit der Nacht standgehalten hätte, die sie mit Thimm verbrachte. Noch erfüllt davon ging sie nicht mehr ins Bett, nachdem er weg war, und weil die Erregung in ihr nach Betätigung verlangte, begann sie mit ihrer Morgentoilette. Es war noch zu früh, um zur Arbeit zu gehen. Dieses Gefühl der Einmaligkeit, das sie jetzt verspürte, lenkte ihre Gedanken auf ihre gescheiterte Ehe. Verwundert sagte sie sich: ›Daß man immer beim falschen Mann anfängt, daß man jahrelang seine Nächte mit einem anderen verbringt und glaubt, es müsse so sein, es müsse so schmecken.‹ Mit langen, gleichmäßigen Bewegungen bürstete sie ihr Haar, ohne sich dessen bewußt zu sein, nahm auch das leise Knistern nicht wahr, mit dem sich die Elektrizität entlud.
    Bevor alles passiert war, hatte sie vor Thimm Ehrfurcht empfunden. Zum wiederholten Male versuchte sie sich an das Geschehene zu erinnern. Zunächst war der Vorfall. Thimm hatte die Polizei angerufen. Dann saßen sie eine Weile da und warteten auf das Ergebnis der Durchsuchung, und als hätte die kurze Anwesenheit des kleinen, geschmeidigen Dicken diese sonderbare Änderung in Thimm hervorgerufen, hatte er sie nicht mehr aus den Augen gelassen. Auch der Glanz seiner Augen, die unvermittelt ihre Gleichmütigkeit verloren, war ihr neu. Sie, der kein Mann je eine Eifersuchtsszene gemacht hatte, glaubte, er wäre über den Vorfall aufgeregt. Als die Durchsuchung ergebnislos verlief, begleitete er sie ins Schwesternheim und kam mit ihr aufs Zimmer.
    Es war merkwürdig. Man hat Vorstellungen von einem Mann und liegt plötzlich neben einem anderen. Als hätte Thimm unter Vorspielung falscher Tatsachen ein Bild von sich geprägt und es darauf angelegt, alle Welt zu täuschen. Der Thimm, den sie erlebte, hatte ihr die Furcht vor einer unbekannten Beziehung genommen und das Schweigen, in das sich eine Frau einigelt, bevor sie es mit sich geschehen läßt, selbstsicher gebrochen. Sie suchte nach einem Höhepunkt in den drei Jahren mit ihrem früheren Mann und fand keinen.
    Als sie nach dem Augenbrauenstift griff, ließ Leopoldine, die ein fanatischer Pläneschmieder war, ihrer Phantasie freien Lauf. Eines Tages würde ich hier vorbeischauen und meine Nachfolgerin fragen: ›Ist mein Mann in seinem Arbeitszimmer? Ich möchte ihn zu einer Party bei Noldens abholen. Sie haben schon von Noldens Party gehört?‹ Und die Oberschwester der Pathologie würde mit einem Blick auf ihren Nerz antworten: ›Gewiß, Frau Professor, der Herr Professor wartet schon auf Sie.‹ Und sie würde mit einem Kopfnicken gütig sagen: ›Danke, meine Liebe. Übrigens ist mein Mann mit Ihrer Arbeit zufrieden …‹
    Einstweilen war es noch nicht soweit. Dennoch fand sie, daß ihr Leben die Unordnung verloren hatte. Jetzt wußte sie, wo sie hingehörte. Nach langem Überlegen zog sie ein violettes Wollkostüm an, das sie vorteilhaft kleidete – ein gestrickter Rock und eine gestrickte Jacke.
    Die geduldige Aufmerksamkeit und die Genauigkeit, die Thimms Charakter und seine Arbeit kennzeichneten, standen im Widerspruch zu der Intoleranz, die er Bertram nach ihrem Streit entgegenbrachte. Seine Verbitterung war so tief und erzeugte einen derartigen Strudel von Gefühlen, daß ein vernünftiges Gespräch zwischen ihnen unmöglich war. Ein Versuch Bertrams, sich für sein Benehmen zu entschuldigen, wurde von ihm nicht zur Kenntnis genommen wenn man Thimm gesagt hätte – aber es gab niemand, der ihm das sagte –, daß er jetzt seinem Freund ebenso unrecht tat, wäre er empört gewesen. Er hatte doch seine Freundschaft zu Bertram ein Leben lang bewiesen. Nur, als er jetzt daran dachte, erinnerte er sich an nichts Gutes, sondern an alles Schlechte, Kränkende. Wenn er an die gemeinsamen Jahre dachte und an ihre Arbeit, so nicht an den Freund, der ihm beistand, sondern an den Rivalen, der ihm Karen weggenommen hatte. Er fühlte sich von Bertram zum zweitenmal beraubt, diesmal der Illusion ihrer Freundschaft.
    Die rätselhafte Geschichte mit den Präparaten von Karen und Violet Girstenbrey war nicht rätselhaft. Natürlich waren beide krank. Daß man das erste Mal bei Violet nichts gefunden hatte, bedeutete nicht zwangsläufig, daß jemand schuld war, wie Bertram es auslegte. Entweder hatte der Chirurg einen größeren, harmlosen Knoten herausgeschnitten – das kommt gelegentlich vor, wenn die bösartigen Veränderungen wenig ausgeprägt sind –, oder Violet
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher