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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück
Autoren: Arjan Visser
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ihre Ware anpreisen und sehe die Amstel an mir vorbeifließen.
    Dies ist meine Heimat. Das bin ich.
    Was den Anfang meiner Geschichte betrifft, so bin ich auf das angewiesen, was meine Eltern mir erzählt haben; ich muss mich darauf verlassen, dass ich es mir richtig gemerkt habe.
    Sie erzählten, ich sei in einem drei mal vier Meter großen Zimmer geboren worden. Zu klein für so viel Leben, soll mein Vater gesagt haben. Meine Mutter meinte, ich hätte sehr lange auf mich warten lassen. Ich hätte ihr wehgetan, weil ich mit verdrehtem Kopf geboren worden sei. Einen echten Sternengucker hatte mich die Hebamme genannt.
    In den ersten fünf Jahren meines Lebens musste ich zu allem ermutigt werden. Ich wollte weder gehen noch sprechen. Meinen ersten Satz äußerte ich am Abend meines dritten Geburtstags, als ich ins Bett gehen sollte. Er lautete: »Nein, nicht schlafen.«
    Meine Mutter lachte immer so nett, wenn sie mir das erzählte.
    Diesen Moment und alle folgenden registrierte ich selbst und bewahrte sie irgendwo in meinem Kopf auf.
    So weiß ich zum Beispiel noch, wie die Flamme der Kerze, die am Schabbat angezündet wurde, in unserer zugigen Wohnung flackerte. Und wenn ich Schimmel rieche, erkenne ich den Geruch erst, nachdem ich mich an das Badezimmer in der Weesperstraat erinnert habe.
    Eine Etagenwohnung – klein, wie ich später feststellte – über einer Drogerie.
    Mein Vater war Händler. Er kaufte und verkaufte Lumpen, aber auch Hausrat, Bücher, Obst und Gemüse, Schreibwaren, Arzneimittel und Lottoscheine. Seine Vergnügungssucht war ebenso ausgeprägt wie sein Geschäftssinn, und das Geld, das er einnahm, verweilte nie lange in seiner Tasche. Der Löwenanteil verschwand in der Kasse des Café Schiller am Rembrandtplein. Er aß und trank gerne, aber noch lieber sah er zu, wie die Menschen in seiner Gesellschaft – in der Regel blonde Frauen – es sich gut gehen ließen.
    Manchmal durfte ich ihn begleiten. Solange ich den Mund hielt.
    »Ach, Meijer!« Ich kann das Gurren immer noch hören. »Aber, aber Meijer!«
    Mein Vater war fast zwei Meter groß. Breite Schultern, schwarzes Haar und leuchtend blaue Augen. Er war im Jordaan geboren, hatte sich jedoch verschiedene Akzente angeeignet. Bei den feineren Kunden sprach er mit vornehmem Den Haager Dialekt, wenn er billigen Tand verkaufte, war es ratsamer, aus seinem Stadtteil zu kommen.
    Die einzige Summe, die er immer gewissenhaft beiseitelegte, war das Haushaltsgeld. Damit ging meine Mutter zum Einkaufen, bezahlte Miete, Wasser, Strom und Kohle. Sie hatte gelernt,meinen Vater zum richtigen Zeitpunkt – spätabends, wenn seine Wangen sich gerötet hatten – um Geld für Kleidung und »Extras« zu bitten. Mit schönen, nicht allzu teuren Vorhängen am Fenster und Bildern an den Wänden, die sie aus Zeitschriften ausschnitt und einrahmte, versuchte sie, die Stube wohnlich zu machen. Aber es blieb trotzdem ärmlich.
    Von jedem aufgelösten Haushalt, den mein Vater aufkaufte, behielt er etwas für uns. Einen Globus mit eingebauter Beleuchtung für mich, ein Steingutservice für Mama, Schmuck für sich – den er später seinen Freundinnen verehrte.
    In meiner Erinnerung war das schönste Geschenk, das er je machte, nicht das amerikanische Tischtennisspiel für mich, sondern ein kleines Bild – eine auf Holz aufgeklebte Reproduktion – für meine Mutter, das über der Anrichte im Esszimmer hing.
    Noch bevor sie das Päckchen entgegennahm, das in eine alte Zeitung eingeschlagen war, wusste ich, dass etwas Besonderes darin sein musste. Das sah ich schon an der Art, wie mein Vater es ihr überreichte. Meine Mutter zerriss das Papier und wurde rot. Auf der Rückseite des Holztäfelchens las ich: »W. Drost. Bathseba. 1654.« Der Kuss, den mein Vater ihr gab, war inniger und dauerte länger denn je. Er legte meiner Mutter die Hände auf den Hintern und hob sie ein Stück vom Boden.
    Das Gemälde zeigte eine Frau mit entblößten Brüsten. Ihr Blick war sonderbar, fast ergeben. Sie trug auffällige Ohrringe und hatte große dunkle Augen, doch es war vor allem ihre linke Brustwarze, die mich faszinierte. Als wäre all die Liebe an diesem Abend, die Geschenke und die Umarmung in diesem kleinen runden Kreis eingefangen.
    Die Wirkung der von Drost gemalten Frau ließ nicht nach. Selbst als mein Vater und meine Mutter sich nicht mehr auf diese Weise umarmten, und sogar dann nicht, als ich sie kaum nochzusammen sah. Allmählich drifteten das Bild und die Erinnerung
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