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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück
Autoren: Arjan Visser
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an die Umarmung meiner Eltern auseinander. Übrig blieb eine angenehme Wärme, die mich erfüllte, wann immer ich die Brustwarze betrachtete.
    Mein Vater kaufte mehr, als er verkaufen konnte, aber trotzdem ging er jedes Mal hin, wenn man ihn bat, »mal zu gucken, ob was für ihn dabei ist«.
    Sein bestes Geschäft machte er mit dem Eigentümer der Tolstraat 101, nachdem der ihm den Hausrat der Wohnung im ersten Stock verkauft hatte. So erzählte es mir mein Vater: Er sei kopfschüttelnd hinter dem Mann hergegangen und habe sich bei jedem Mangel in der Wohnung laut gewundert, wer hier einziehe, müsse ein Trottel sein. An der Tür habe er dann ganz beiläufig angeboten, einen Mieter zu suchen, irgendeinen armen Schlucker, der gerade mal genug Geld für die Miete habe, und bis dahin, er wolle ja nicht so sein, würde er selbst mit seiner Familie einziehen. Der Hausbesitzer schlug ein.
    Ich war sechs Jahre alt, als wir in die Tolstraat zogen. Dort durfte ich allein auf die Straße. Die Einzige, die mich im Blick behielt, war Mevrouw Van Groen aus dem Erdgeschoss. Jedes Mal, wenn ich die Eingangstreppe hinauf- oder hinunterging, sah ich sie an ihrem Stammplatz sitzen, hinter den Blumentöpfen auf der Fensterbank. Wenn ich ihr zuwinkte, duckte sie sich schnell. In meiner Erinnerung ist sie alt, doch vermutlich war sie in dem Alter, in dem meine Enkel heute wären, wenn ich welche hätte.
    Ich freundete mich mit den Söhnen der Diamantschleifer an, die bei Asscher arbeiteten. Ich aß viel, wuchs und gedieh. Mit meinen langen Gliedmaßen konnte ich mühelos auf die Kastanien im Sarphatipark klettern und auf die Dächer der Schuppen in der Lutmastraat. Gelenkig, schnell und stark war ich.
    Aus den ersten Jahren in der Tolstraat fällt mir diese Geschichte ein: Da war ein Mädchen, sein Name ist mir entfallen. Sie hatte strohblondes Haar und trug eine große Schleife schräg auf dem Kopf. An ihre Hände erinnere ich mich gut. Die musste ich mir immerzu ansehen. Es ist schwer, das passende Adjektiv für sie zu finden. »Schön« ist zu gewöhnlich. »Vornehm« klingt seltsam. »Schmal« wird ihren Händen nicht gerecht. Sie fühlten sich zart an. Das Mädchen schob sie unter meinem Pulli und meinem Unterhemd bis zu den Schulterblättern hoch. Mir erschien es ganz selbstverständlich, dass ich mich vorbeugte und sie auf die Stirn küsste. Wenn Mevrouw Van Groen nicht genau in dem Moment das Treppenhaus hätte putzen wollen, hätte ich diese Begegnung vielleicht vergessen. Dadurch, dass sie auftauchte, dauerte unsere Umarmung länger; eng umschlungen standen wir da, gefangen im eisigen Blick meiner Nachbarin. Dem Mädchen sagte sie, es solle sich besser mit seinesgleichen abgeben.
    Der Zinkeimer schabte über die Steine, Wasser platschte die Stufen hinunter. Erst hörte ich sie schrubben, dann wischte Mevrouw Van Groen das überschüssige Wasser auf. Als sie fertig und wieder in ihrer Wohnung verschwunden war, ließ das Mädchen mich los und lief, so schnell es konnte, die noch nasse Treppe hinunter.
    Offenbar nahm sie sich Mevrouw Van Groens Rat zu Herzen; jedenfalls sah ich sie nie mehr wieder.
    »Du siehst genauso gut aus wie dein Vater«, sagte meine Mutter, als ich ihr die Geschichte erzählte, doch ich verstand nicht, worauf sie hinauswollte, und ihre Äußerung bot auch keine Erklärung für meine Erregung – eine Art Nervosität –, die sich nur langsam wieder legte.
    Dass ich meinem Vater ähnlich sah, hatte meine Eltern lange Zeit erfreut, aber ein Jahr nach unserem Umzug änderte meine Mutter allmählich ihre Meinung.
    »Derselbe Kopf«, sagte sie, »aber nicht derselbe Inhalt. Was in diesem Mann vorgeht, wird mir für immer ein Rätsel bleiben. Dein Vater wird mir immer fremder.«
    Mir war nicht ganz klar, was sie damit meinte, doch wenn sie darauf anspielte, dass wir ihn in der Tolstraat nur selten zu Gesicht bekamen, hatte sie sicher recht. Mein neues Leben in diesem Viertel hielt mich zu sehr auf Trab, als dass ich ihn vermisst hätte. Mir ging es gut da.
    Als meine Mutter anfing, über die Frauen herzuziehen, mit denen ihn unsere ehemaligen Nachbarn aus der Weesperstraat gesehen hatten, ging mir auf, dass es sich dabei um jene »Tanten« handeln musste, die ich ihr gegenüber nicht erwähnen durfte. Eine war dabei, die mein Vater augenzwinkernd »eine ganz besondere Tante« genannt hatte. Wir aßen ein paar Mal zu dritt Eis am Leidseplein. Sie trug einen Pelzmantel und lachte viel.
    Zu der Zeit legten meine
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