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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück
Autoren: Arjan Visser
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Mutter und ich uns ein Steckenpferd zu, das, glaube ich, ihrer Eifersucht geschuldet war. Als mein Vater mich einmal nach einem Ausflug nach Hause gebracht hatte – »Wir waren nur zu zweit, Jonah, vergiss das nicht, nur wir zwei!« –, um wegen eines »sagenhaften Angebotes« gleich darauf wieder aufzubrechen, lief sie ihm bis ins Treppenhaus nach und rief: »Jonah und ich gehen ins Kino!«
    »Na dann, viel Spaß!«, entgegnete mein Vater nur und verschwand, die sich unsichtbar wähnende Mevrouw Van Groen im Vorbeigehen grüßend, in einem eleganten Bogen um die Ecke.
    Ich begriff nicht, warum meine Mutter so aufgebracht war. Papa war doch damit einverstanden, dass wir uns einen Film ansahen? »Mama!« Ich folgte ihr in die Küche, wo sie anfing, dieArbeitsplatte aus Granit zu scheuern – obwohl die blitzblank war.
    »Ich weiß, in welchen Film wir gehen«, rief ich freudig. »Pat und Patachon. Da gibt es gerade einen, in dem sie Boxchampions spielen!«
    »Was sagst du da?«
    »Der Film! Da will ich rein.«
    Erst dachte ich, sie würde noch wütender werden – ich wusste, dass der Sport, für den mein Vater und ich uns begeisterten, meiner Mutter zuwider war –, doch dann lachte sie laut los. Zu laut. Ich wusste nicht, was als Nächstes käme: ein Kuss oder eine Ohrfeige. »Ich will ja nicht so sein«, sagte sie, »vielleicht ist es sogar eine gute Idee.«
    Das war der erste in einer langen Reihe von Filmen, die ich in meiner Kindheit und Jugend ansah. Später begriff ich, dass meine Mutter nicht ins Kino ging, um etwas zu sehen, sondern um nicht gesehen zu werden.
    In Hut und Handschuhen saß sie neben mir. Ab und zu wischte sie sich mit einer lederbedeckten Hand übers Gesicht. Sie rutschte auf ihrem Sitz hin und her und kramte in der Handtasche auf ihrem Schoß. Aus Besorgnis, vor allem aber, damit sie still sitzen blieb, weil es gleich losgehen würde, legte ich ihr die Hand auf den Arm.
    Das Licht erlosch allmählich und vorn im Saal erschien auf einer übergroßen Schultafel in weißen Lettern der Titel. Ich applaudierte; so groß schreiben zu können war für mich an sich schon eine Kunst. Dann sah ich zwei Menschen, riesig, aber flach und farblos, an der Wand des Filmtheaters über eine große Eisfläche trotten. Es verschlug mir den Atem. Als ich zur Seite schaute, sah ich, dass meine Mutter die Augen geschlossen hielt.
    »Sieh mal«, flüsterte ich. »Sieh doch hin!«
    Sie schien mich nicht zu hören. Licht fiel flackernd auf ihr Gesicht; ihre Wangen glänzten. Sie war traurig, so viel begriff ich. Wegen meines Vaters, den ich liebte. An einem Ort, an dem ich glücklich sein wollte. Ich drehte mich so, dass ich sie nicht mehr sehen musste.
    Mittlerweile trieben die beiden Männer auf einer Eisscholle. Schwertfische und Seehunde schwammen um sie herum. Wie sie da hingekommen waren oder wie sie schließlich gerettet wurden, bekomme ich nicht mehr zusammen. Ich wartete auf den Moment, in dem sie endlich Boxchampions wurden, aber es gab keinen echten Kampf. Es war ein Film für Kinder. Als in geschwungenen Lettern das Wort »Ende« an die Leinwand geschrieben wurde, war ich enttäuscht, aber auf der Straße sah ich dann, dass Pat und Patachon meine Mutter ein bisschen aufgemuntert hatten. Sie sah schon ein wenig fröhlicher aus. Und wir waren zusammen fort gewesen, an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Bei jedem weiteren Kinobesuch sollte ich daran denken: wie das Wunder der Vorführung noch übertroffen wurde von der Möglichkeit, sich in dem Film zu verlieren.
    Wir gingen gemeinsam ins Kino, bis ich allein gehen durfte. Einmal im Monat. Viele Figuren sind mir im Lauf der Jahre in den falschen Film geraten, und ich habe nicht alle Geschichten genau vor Augen, aber hier, im Luftraum über Deutschland, kommt mir eine messerscharfe Erinnerung an einen Film, den ich im Citytheater am Kleine Gartmanplantsoen gesehen habe.
    Der Mann zu meiner Linken erinnert mich an den Hauptdarsteller Ronald Colman, der wie eine kleinere Ausgabe meines Vaters aussah, oder jedenfalls wie das Bild, das ich von ihm habe. Genauer gesagt: wie eines der Bilder, die ich von ihm habe;im Laufe meines Lebens ist mir mein Vater in unterschiedlicher Gestalt begegnet. Das Einzige, was diese Männer in Wirklichkeit mit ihm verband, waren ihre Anziehungskraft und ihr Charme.
    Colman spielte den Diplomaten Robert Conway, der in einem Flugzeug durch die Nacht flog. Es war wohl eine Douglas DC-2 oder vielleicht auch eine DC-3. Im
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