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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück
Autoren: Arjan Visser
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Zimmer gegangen ist.
    Bis Sonja kommt – darauf kann ich mich verlassen –, schlage ich die Zeit tot, indem ich kleine Erinnerungen hervorhole, sie wie Gegenstände in die Hand nehme, von allen Seiten betrachte und dann wieder in den See der Vergesslichkeit sinken lasse. Ich denke an Menschen, die ich nur ein Mal im Leben getroffen habe, suche nach Wörtern für die Farbe des ipê-amarelo und lasse kleine Diamanten auf meiner Handfläche hin und her kullern.
    Kats Enkelin erscheint, als wäre sie Teil einer logischen Abfolge von Ereignissen. Sofort plappert sie drauflos. Ihr zuzuhören ist herrlich. Sie findet es nicht schlimm, dass ich ab und zu die Augen schließe. »Ich habe mir ja was zum Lesen mitgenommen«, sagt sie.
    »Wovon handelt es?«
    »Von der großen Liebe. Fantasy, sozusagen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ach, na ja … Ich weiß nicht, ob es echte Liebe überhaupt gibt. Seit meine erste Beziehung kaputtgegangen ist, komme ich mir vor, als hätte ich einen Makel, den ich nie mehr loswerde. Manchmal übersehen ihn die Männer, aber nach einer Weile ist der Makel doch wieder da: Hey, was hast du denn da? Und dann geht es von vorne los. Entfremdung, Funkstille, Klagen, Versprechen, sich zu ändern, und weg ist er. Ich lese, um zu vergessen. Romane muntern mich auf. Manchmal hält das gute Gefühl wochenlang an, aber am Ende versinke ich wieder in so einem dumpfen, dämlichen, elenden Mistgefühl. Früher konnte Walter mich da ab und zu rausreißen. Es mag ziemlich platt klingen, aber wenn er sagte, dass ich … na ja, dass ich einfach mal wieder richtig genommen werden müsste, dann machte mich das ganz glücklich. Erstens weil er mich wahrnahm und begriff, dass er mich irgendwie aufbauen musste, und zweitens, weil es tatsächlich funktionierte. Jedenfalls bis ich eines Abends keine Lust darauf hatte. Er war eingeschnappt, ich ließ ihn gewähren und … Was erzähle ich Ihnen hier überhaupt alles für Geschichten?«
    Sie legt eine Hand an die Stirn.
    »Na ja. Egal. Ich habe wirklich geglaubt, dass Walter der Richtige ist. Früher sind wir häufig ausgegangen, hatten Spaß. Er hat mir Schmuck gekauft und jede Woche einen großen Blumenstrauß. In letzter Zeit ist er zu beschäftigt, behauptet er, obwohl er arbeitslos ist, also habe ich ihn gefragt: ›Womit denn?‹ Und dann ist er sauer geworden und hat gesagt, dass mich das nichts angeht. Vielleicht haben wir zu schnell geheiratet, ich weiß nicht … Manchmal habe ich das Gefühl, einen Fremden ins Haus gelassen zu haben, jemanden, der meine Sachen begrapscht, der mich begrapscht und der nicht vorhat, das bleiben zu lassen oder jemals wieder wegzugehen …«
    Ich überlege, ob ich ihr erzählen soll, was dieser Kaptein mir berichtet hat: dass der Knabe kurz davor ist, aus ihrem Leben zu verschwinden, doch ich traue meinem Gedächtnis nicht und schweige.
    »Das liegt in der Familie«, sagt sie. »Wir sind nicht für die Ehe geschaffen. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, und ich glaube, dass meine Opas und Omas auch nicht gerade glücklich verheiratet waren. Bei Oma Kat, meiner Großmutter mütterlicherseits, bin ich mir sicher. Ich weiß noch, dass sie und Opa oft Streit hatten. Mal, weil mein Opa so faul war, dann wieder, weil meine Oma sich immer in alles einmischte, aber meistens ging es um den Krieg, um Dinge, von denen ich als kleines Mädchen überhaupt keine Ahnung hatte. Verrat, die Untergrundbewegung und solche Sachen. Ich habe meine Oma einmal gefragt, was sie denn unter dem Grund gemacht hat. ›Würmer gesucht‹, sagte sie. Auch als ich größer wurde und verstand, was damals los war, schwieg meine Oma weiter, als wäre sie immer noch beim Widerstand und hätte Angst, jemanden zu verraten. Der einzige Name, den sie mal hat fallen lassen, ist …«
    »Linda.«
    »Genau! Daher auch der Name des Hotels. Woher …?«
    »Deine Großmutter hat mir einmal geholfen. Aber das erzähle ich dir ein anderes Mal.«
    »Sind Sie müde?«
    »Ja.«
    Müde bin ich auch, aber das ist nicht der Grund für mein Schweigen. Es ist wie bei der Klappe zwischen Speiseröhre und Magen, die sich automatisch schließt. Bei mir hält diese Klappe die Wörter zurück. Diesmal ist meine Ausrede akzeptabel: Warum sollte ich ihrer Enkelin die Geschichte erzählen, jetzt, da ich schon so nah bei Catharina bin?

51
    Es ist derselbe Mann, der mich vom Flughafen in die Stadt gebracht hat. Finsterer Blick, breite Nase, kräftige, hochgezogene Schultern. Diesmal setze ich
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